Ende von „TV total“: Mit Stefan Raab endet keine „Fernseh-Ära“, sondern das Fernsehen selbst

Stefan Raab ist vielleicht keine typische Vaterfigur, aber viele Menschen, die kurz vor Weihnachten seinen emotionalen Fernseh-Abgang erlebt haben, sind von ihm jahrelang großgezogen, förmlich erzogen worden. Warum fühlten sich über 16 Jahre hinweg Millionen von Menschen in Raabs medialer Gegenwart gut aufgehoben und auch noch gut unterhalten? Worin besteht der besondere Reiz seines immer dichteren Fernsehkosmos, der angefangen hat mit dem scheinbar harmlosen „Vivasion“-ähnlichen wöchentlichen Experiment im kleinen Kölner Studio und angewachsen war zu einer unüberblickbaren „totalitären“ Fülle von Musik-, Sport- und Unterhaltungsformaten im Fernsehen, auf Tonträgern und als Spiele für Konsole, Computer und Wohnzimmertisch? Woher kommt das Vergnügen, das Deutschland empfunden hat, wenn Stefan Raab die Fernseh-Bühne betrat?

Boris Grois hatte in seiner „Phänomenologie der Medien“ herausgearbeitet, dass es das Projekt der Moderne ist, die Vorstellung vom Subjekt zu dekonstruieren, denn es wäre einfach zu furchteinflößend, wenn sich herausstellen würde, dass am „anderen Ende der Leitung“ – etwa hinter der glatten Oberfläche der Fernsehbildschirme oder im Hintergrund der Interfaces von Einkaufsportalen und Games im Internet – noch handelnde, denkende, fühlende, also lügende, verbrecherische, hinterlistige Menschen verbergen würden. Gerade weil die Zeichenoberfläche der Medien ihre Subjektivität verschleiern will, die medialen Mechanismen und ihre Macht vor uns versteckt, hegen wir in ihrem Angesicht den Verdacht, dass wir eigentlich keine Ahnung davon haben, wie Medien funktionieren – und ständig nur darauf warten, „dass sich der dunkle, verborgene submediale Raum irgendwann preisgibt, verrät, offenbart“. Das macht den Anblick der medialen Oberfläche erst so schrecklich reizvoll.

Hierin liegt auch das zwielichtige Vergnügen begründet, das wir empfinden, wenn in der sonst vermeintlich perfekten Fernsehinszenierung etwas schiefgeht: wenn sich eine Moderatorin in einer Livesendung aus heiterem Himmel übergibt und in Ohnmacht fällt, sich Korrespondenten die schönsten Freud’schen Versprecher leisten oder Jens Riewa ein offensichtlich schwerwiegendes Problem mit „seinem Gerät“ unter der glatten medialen Hochglanz-Oberfläche seines Tagesschau-Schreibtisches hat. Diese telemedialen Missgeschicke, die uns Raab immer vorgeführt hat, erzeugen mehr als Schadenfreude: In ihnen geraten das sonst scheinbar objektive Fernsehen und mit ihm all seine unsichtbaren Prozesse in einen unerwarteten kurzen Moment des aufrichtig ehrlichen Ausnahmezustandes, indem sich alle mühselig konstruierten Objektivitäten der Medien auflösen, stattdessen das Fernsehen nackt auf dem Seziertisch liegt. Das einst Autorität und Ehrlichkeit ausstrahlende Fernsehen wird zu einer Parodie seiner selbst.

Raab ist ein moderner Satiriker. Doch er produzierte keine politische Satire, weil der neue Ort des Politischen das Mediale ist. Gesellschaftliche Aushandlungen geschehen nur als Inszenierung im Bundestag, tatsächlich entstehen sie im hochkomplexen Diskurs, der uns ständig umgibt, und damit auch unter jenen Machtverhältnissen, denen Diskurse eben unterliegen. Dabei sind die Medien mit dem Internet nur scheinbar „demokratischer“, der Einzelne „wichtiger“ geworden – die Bemächtigten haben einfach nur andere Namen, ihre Methoden einen subtileren Anstrich. Mit seiner neuartigen Form der Satire hat Raab eine komplexe Fernsehkritik an den undurchsichtigen, dirigierten, kontrollierten Verfahren geleistet, nach denen sich Meinungen und Tendenzen in der Öffentlichkeit herausbilden – ausgerechnet indem er diese verdächtigen Verfahren ins Unsteigerbare überzeichnet und so erst wahrnehmbar und kritisierbar gemacht hat.

Unvergessen bleibt etwa der Defekt seines sonst fahrbaren Schreibtisch-Untersatzes, der „in Wahrheit“ mit der Kraft eines riesigen Magneten unterirdisch durch eine Armee von Lumpenproletariern bewegt wird, oder die „Schlacht um RTL“, bei der der Privatrundfunk noch besser bewacht zu sein scheint als die engste Führungsriege eines Militärstabs. Dass Raab auch selbst eine mediale Oberfläche ist, die nur mit Hilfe seiner Hundertschaften im Hintergrund Zeichen produziert, zeigte er jeden Abend, wenn seine Produktionsleiterin ihm die Texttafel hinhielt, ohne die er als „Moderator“ vollkommen aufgeschmissen ist. So ging Raab als Aufklärer wesentlich systematischer vor als sein Vorgänger Oliver Kalkofe und (nicht dem Publikum, sondern dem Fernsehen gegenüber) schonungsloser als Harald Schmidt.

Das Ende des „TV total“-Universums von Stefan Raab und seines Schöpfers fällt nicht zufällig mit den letzten Zuckungen des deutschen Fernsehens selbst zusammen: Während Raab abdankt, erleben wir vor der Mattscheibe die Zeit nach dem ‚Ende des Fernsehens‘, eine Art telemediale Posthistoire, die nur noch aus hoffnungslos multiplizierten Ausscheidungs- und Selbstdarstellungsshows, Helene Fischer und ihren Helfern und billig das Programm füllenden Pseudofiktionen besteht. Davon sind auch alle angeschlossenen Ökonomien und Subsysteme betroffen: etwa die Werbefilmproduktion, die sich mit immer absurderen Formen der „Produktplatzierung“ duelliert und dabei an Bedeutung verliert; die Moderation, die nach Thomas Gottschalk und Matthias Opdenhövel kein messbares Talent mehr hervorbringt, dabei auf besondere Art „automatisiert“ wird; oder die einstigen Gemeinschaften vor dem Fernseher, die sich in viele kleine Einsamkeiten aufgespalten haben.

Natürlich: ‚Noch gibt es Fernsehen, gibt es Unterhaltung‘, doch mit der Auflösung der etablierten Einzelmedien im „totalen Glasfaserverbund“, wie es Kittler schon in den 1980er-Jahren beschrieben hatte, herrschen schon bald ganz neue Spielregeln mit neuen Spielleitern, die von ihren Ahnen zwar äußerliche Ähnlichkeiten erben, aber in einer ganz anderen Welt leben als ihre Vorfahren. Heute wissen wir, wie das Fernsehen funktioniert, und damit wird es weniger interessant – vor allem, weil die häufig beschworene ‚neue Fernsehunterhaltung‘ wie jene, die etwa bei ProSieben das arbeitstägliche Show-Spätprogramm am Leben erhalten soll, nur noch an den Stellen Fernsehen ist, wo sie Fernsehen imitiert, und sich ansonsten schon bei der „Generation Z“ mit ihren neuen Rezeptionsbedürfnissen anbiedert, indem sie für ihre Web-Clips lediglich die anhaltend große technische Reichweite des Fernsehens für sich ausnutzt.

War es Raabs historische Leistung, uns kurze Einblicke in den submedialen Raum des Systems Fernsehen zu gewähren, würde die neue Fernsehunterhaltung nur dann interessant sein, könnte sie uns auf unterhaltsame Weise etwas Wichtiges über die Beschaffenheit der Medien unserer Zeit mitteilen – angesichts der Vielfalt an Akteuren, Techniken und Bedrohungen eine Aufgabe, die kaum etwa von einem werbefinanzierten Hipster-Duo, am ehesten noch von wirklich Furchtlosen wie Jan Böhmermann bewältigt werden könnten. Fernsehen braucht es dazu eigentlich nur noch als Technik, nicht als Institution.

Raab hat auf dem Bildschirm nie irgendwelche langweilige Selbstreflexion betrieben – seine Erfolgsformate wie „Schlag den Raab“ gaben ihm selten Anlass dazu. Am Ende seiner Fernsehkarriere gibt es das „totale Fernsehen“ von 1999 nicht mehr, gibt es keinen vergnüglichen Verdacht des Fernsehens mehr, der für uns so amüsant war. „Ich hoffe, sie hatten ein bisschen Spaß“, waren vielleicht seine letzten Fernsehsätze. Vielleicht waren es auch die letzten interessanten Sätze, die im Fernsehen gesprochen wurden.

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Auspeitschender verkörperter Kapitalismus: Worum es in „Fifty Shades of Grey“ wirklich geht

Auch am zweiten Wochenende haben noch einmal 800.000 Menschen den zum Teil hysterisch erwarteten „Erotikfilm“ Fifty Shades of Grey gesehen, allein in Deutschland. Woher die Euphorie für die Romane und letztlich für die Verfilmung von Greys kleinen, anrüchigen Abenteuern kommt, ist in den letzten Jahren vielfältig diskutiert worden. So richtig überzeugend konnte das bisher aber niemand erklären.

Natürlich: Der Umgang mit Geschlechtlichkeit befindet sich heute – vor allem in den industrialisierten Gegenden, aber nicht nur dort – in einem dynamischen, meist progressiven Wandel. Und damit ist plötzlich auch alles ganz schön kompliziert geworden: Jede_r kann alles sein, alles verlangen, zum Glück auch alles ablehnen. Da sehnen sich manche Herrschaften nach den ‚guten alten Zeiten‘, als scheinbar unumstößliche gesellschaftliche Normen es leicht gemacht haben, das Zusammenleben zu organisieren.

Nun dämmert es allmählich den meisten, was zwischen „Mann“ und „Frau“ noch für Geschlechtlichkeiten versteckt werden, wie stark menschliche Beziehungen von Machtverhältnissen bestimmt wurden und weiter werden und dass ganz offensichtlich die heteronormierte Ehe doch nicht der letzte Stein der Weisen, zumindest nicht alternativlos, ist.

In verschiedenen Feuilletons hat sich somit eine Deutung inzwischen als „Lehrmeinung“ etabliert: dass der Film mit der dort vertragsartig regulierten „Beziehung“ irgendwie einen sympathisch ‚fairen‘ Ausgleich schafft, nachdem mit der Emanzipationsbewegung die Geschlechterkonfigurationen zugleich freiheitlicher wie auch unübersichtlicher geraten sind.

Die scheinbar naive Literaturstudentin Anastasia Steele und der Telekommunikations-Milliardär Christian Grey sind sich allem Anschein nach so ziemlich einig über das, was sie wollen und was sie nicht wollen. Der Rest scheint Verhandlungssache. Als würden zwischenmenschliche Beziehungen so funktionieren wie ein Mobilfunkvertrag.

Doch wer ein Handy hat, weiß selbst genau, dass auch der Preis für die Flatrate natürlich keine Verhandlungssache ist. Und selbst wenn es so einfach wäre, dann müsste Mr. Grey auch in keinem gläsernen Bürokomplex den Chef spielen und seinen Namen an alles kleben, was teuer oder edel aussieht. Er bräuchte seine neue „Eroberung“ nicht in Hubschrauber und Flitzer durch die schillernde Weltgeschichte gondeln. Er müsste Anastasia Steele noch nicht einmal in seinem sterilen Penthouse einquartieren.

Würde das wirklich reizvolle Thema von Fifty Shades of Grey der Umgang mit den neuen Spielarten von Geschlechtlichkeit sein, dann könnten Steele und Grey – um die ziemlich banalen Klischees der Vorlage weiterzuspinnen – auch einfach unter dem Mindestlohn bezahlte Servicekräfte sein, die sich am Küchentisch oder im Schnellrestaurant statt zum Gourmet-Geschäftsessen treffen, um vertraglich festzulegen, welche Praktiken sie miteinander durchexerzieren möchten.

Diese Menschen hätten aber wohl ganz andere Sorgen, als sich vereinbarungsgemäß durchpeitschen zu lassen, das besorgen schon ganz andere, und selbst wenn man darauf Lust hätte, müsste erst einmal das Geld da sein, um sich „Spielzimmer“ samt Inventar leisten zu können.

Sehr wahrscheinlich liegt die Faszination also nicht in den erschreckend unerotischen Darstellungen auf Greys roter plüschiger „Spielwiese“, sondern in dem, was die Figur „Grey“ als solche bedeutet, was wir in ihr erkennen können. Der Spiegel hatte einst zum Roman geschrieben, dass wenn die Geschichte „ein Porno ist, dann ist es ein Kapitalismus-Porno“: Eben nicht die „Sadomaso“-Praktiken seien die Perversion, sondern die Bilder von absurdem materiellen Reichtum, den Grey ohne angemessene Anstrengungen anhäuft, die Bilder von den phallischen Wolkenkratzern, die zum Zeichen der finanzkapitalistischen Welt geworden sind, weil in ihnen einige Mächtige das Schicksal der Welt dirigieren.

Eine solche Schaulust in Bezug auf die Dekadenz unserer Zeit muss im Lichtspiel noch besser funktionieren als im Buch, denn hier kann das Publikum ein Leben sehen, welches für dieses niemals erreichbar sein kann. Und sie funktioniert hier noch besser als bei The Wolf of Wall Street, weil der gezeigte Exzess irgendwie erschreckenderweise zu glaubwürdig wirkt.

Doch der wirkliche Schrecken besteht nicht im Anblick dieser Schau der materiellen Völlerei, sondern dass wir die hässliche Fratze des Kapitalismus in der Figur „Grey“ selbst erkennen: So nett, wie er uns im Interview für das Studierendenmagazin angrinsen soll, lächeln uns auch die Versprechungen der Konsumwirtschaft auf Produktoberflächen und Werbebildern an, nur um uns fett, abhängig und arm zu machen.

So gönnerhaft uns Mr. Grey für nur ein paar ‚kleine Zugeständnisse‘ ein aufregenderes Leben verspricht, so sollen wir gefälligst auch der Marktwirtschaft mit ihren ‚selbstlosen‘ Angeboten die Füße küssen – als würde sie für uns da sein, und nicht wir für sie.

Die Spitze macht die Rolle von Grey als selbsternannten „Entwicklungshelfer“: Wer sich alles und jede_n nimmt, der kann natürlich auch den Großzügigen spielen. Tatsächlich entstehen durch Greys – also marktwirtschaftliches – Handeln erst Armut, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung. Das Grinsen des verkörperten Kapitalismus – es war, wie schon bei Norman Bates, viel zu nett, um wahr sein zu können.

In diesem schmächtigen Lächeln sehen wir die verführerische Macht der Wirtschaftsordnung, aber auch ihre Schwäche, ihre Anfälligkeit. Fifty Shades of Grey ist also tatsächlich eine körperliche Tyrannei, aber keine geschlechtliche, sondern eine ökonomische: Die machtvolle Figur des Grey ist die Inkarnation all dessen, was für uns im 21. Jahrhundert sonst unsichtbar oder un-fassbar bleibt. Im Kino steht uns dieser Körper nun auf einmal ganz konkret gegenüber. Mit heruntergelassener Hose.

Das wirklich Groteske in dieser Gegenwartstragödie entsteht dabei in der angenommenen Form der Freiwilligkeit, durch die das schreckliche Spiel seinen Lauf nimmt: So vermeintlich frei wie ein_e Arbeit-Nehmer_in sich entscheidet, sich für einen viel zu kleinen Teil vom viel zu großen Kuchen Stück für Stück zu verkaufen (also mehr gibt, als nimmt), so frei ist auch Steele in ihrer „Entscheidung“, sich vom Kapitalismus gelegentlich mal einen Klaps auf den Allerwertesten geben zu lassen.

Weil Steele an einem imaginären Ort lebt, an dem man nicht sowieso einfach mal aus „Tradition“ verprügelt oder verstümmelt wird (zumindest nicht so direkt und unmittelbar wie in manchen Kulturen oder Institutionen), empfindet sie das Spiel um den Schmerz anfänglich noch irgendwie als lust-ig, es gibt ja auch sonst nicht viel auszuhalten.

Doch es ist plötzlich überhaupt nicht mehr spaßig, als der neue „Arbeit-Geber“ (der vor allem nimmt, statt irgendetwas wirklich zu geben) nicht nur seine neuen vertraglich zugesicherten Freiheiten voll und ganz auskostet, sondern sich auch weitere Freiheiten nimmt: Überwachen und Strafen. Dabei hatten wir doch zusammen mit Steele fälschlicherweise angenommen, dass das der verfassungsmäßigen Ordnung und ihren Organen vorbehalten bliebe, und nicht der verkörperten Wirtschaftsordnung.

Das Emanzipatorische besteht also nicht darin, dass Steele die Züchtigungsverfahren schriftlich zugesteht, sondern in dem Akt der überfälligen Verweigerung, diesem wichtigen Schritt des Widerstandes, den Steele geht, nachdem sie auf der „Streckbank“ liegt und ausgepeitscht wird – nämlich so, wie man es mit uns am liebsten tut, wenn wir es zulassen: so unbarmherzig wie möglich, und so, dass der (Lust-)Gewinn am größten ist.

Weil Steele dies wagt – allen vermeintlichen Luxus verweigert, um wirklich in Freiheit zu leben -, ist sie die am wenigsten naive Figur in dieser Geschichte. Sie erinnert ein bisschen an Forrest Gump, der dadurch zur intelligentesten Filmfigur wurde, indem er im unaufgeregten richtigen Handeln die amerikanische Lebensweise besiegt, die inzwischen unser Leben überall auf der Welt dominiert. So wird Steele zumindest in den letzten zwei Minuten des Films, als sie aus der als Liebeshöhle getarnten Folterstube der „Marktwirtschaft“ flieht, wenigstens nachträglich wirklich zu einer „Heldin unserer Zeit“.

Natürlich ist Grey nicht der erste wütende Kapitalismus-Körper, der uns in der Kunst begegnet: Schon der Chef-Verführer Krolock aus Tanz der Vampire wusste, was er meinte, als er im Musical zum Besten gab: „Was du erträumst wird Wahrheit sein! Nichts und niemand kann uns trennen! Tauch mit mir in die Dunkelheit ein! … verbrennen wir die Zweifel! … Die Ewigkeit beginnt heut‘ Nacht“.

Dass wir uns dieser perfiden, als ‚freiheitliche Demokratie‘ getarnten „totalen Finsternis“ so freiwillig hingeben müssen, als sei sie wirklich das „Ende der Geschichte“, nur aus Hoffnung auf die kleinen Zugeständnisse an Glück und Erfüllung, das werden die meisten in ihrem täglichen Leben nicht erkennen, so sehr sind wir damit beschäftigt, das Beste daraus zu machen.

Vielleicht aber möchten wir Filme deswegen sehen, weil nur in der Kunst und vor allem im Kino der Schleier abgelegt ist, weil wir unserem sonst gut getarnten Peiniger endlich mal in die Augen schauen dürfen. Grey „bleibt mir ein Rätsel“, wie Steele sagen würde, aber im Film steht er plötzlich sehr konkret vor uns, letztlich ganz ohne Grinsen, ohne gute Ausrede. Mit dem Gürtel in der Hand.

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#ksableibt: Die Kurt-Schumacher-Akademie in Bad Münstereifel darf nicht verscherbelt werden!

Fragen zur Zukunft zur Gesellschaft werden hier beispielsweise bei einem stipendiatischen Seminar zur interdisziplinären Glücksforschung (Juni 2013) bearbeitet. (Foto: privat)
Fragen zur Zukunft unserer Gesellschaft werden hier beispielsweise bei einem stipendiatischen Seminar zur interdisziplinären Glücksforschung (Juni 2013) bearbeitet. (Foto: privat)

150 Stipendiat_innen der Friedrich-Ebert-Stiftung haben sich folgendem offenen Protestbrief angeschlossen und so ein öffentliches Zeichen gesetzt gegen die geplante Schließung der Kurt-Schumacher-Akademie in Bad Münstereifel, der in diesen Tagen dem Stiftungsvorstand zugeht:

Sehr geehrter Herr Beck,
sehr geehrter Vorstand der Friedrich-Ebert-Stiftung,

mit Ihrer Entscheidung, dass die Kurt-Schumacher-Akademie in Bad Münstereifel Ende dieses Jahres ihren Betrieb einstellen soll, sind Sie in den Augen vieler Stipendiat_innen der Friedrich-Ebert-Stiftung einen nicht nachvollziehbaren Weg gegangen. Wir möchten mit diesem Brief entschieden gegen die Pläne protestieren und fordern Sie dazu auf, diese zu widerrufen und die Akademie mit samt ihren Werten, Erinnerungen und politischen Idealen zu erhalten.

Für etwas mehr als eine Million Euro möchten Sie einen Teil der Geschichte der Sozialdemokratie und damit auch ein Stück bundesrepublikanische Geschichte verscherbeln – ein fast lächerlicher Preis, der nicht annähernd den Wert der Akademie für uns Stipendiat_innen beschreibt. In unseren Augen drückt der Preis eine Geringschätzung gegenüber unseren Werten und nicht zuletzt gegenüber den Mitarbeiter_innen der Akademie aus: Praktisch durchgängig werden in der Akademie von einem engagierten Team beispielhafte Seminare angeboten, deren progressiver Impuls und generationenübergreifender Gestus so manche Politik in den Schatten stellt.

Die Kurt-Schumacher-Akademie war nicht nur die Geburtsstätte für sozialdemokratische Bewegungen in Europa oder die Wiege für Brandts “mehr Demokratie”, sondern ist bis heute eine Schmiede für Ideen, wie wir im 21. Jahrhundert leben wollen. Menschen verschiedenster Herkünfte und Sozialisierung erarbeiten gerade in diesem Moment neue Vorstellungen von Arbeit, Glück, Frieden, Demokratie, Europa und Menschlichkeit. Mit Ihrer Entscheidung fühlen wir uns genau um diese sozialdemokratischen Werte betrogen: Statt um “gute Arbeit” und “Bildung für alle” geht es nur um vermeintliche Effizienzsteigerungen und die Aussicht auf das schnelle Geld.

Für Sie, Herr Beck, sei die Akademie “nicht mehr zeitgemäß”. Sind Sie sich dessen bewusst, was Sie damit genau meinen? Hier arbeiten Menschen zum großen Teil in sozialversicherungspflichtigen Verhältnissen, servieren ökologisch verantwortungsvolle und klug zubereitete Kost aus der Region (die so manche Fleischliebhaber_innen zu Veganer_innen werden ließ), bieten den Freiraum zum gesellschaftspolitischen Austausch unabhänig vom sozialen Status. Wir widersprechen Ihnen: Sie werden in der Bundesrepublik kaum eine Einrichtung der Erwachsenenbildung finden, die in dieser Form vorlebt, was es heute bedeutet, althergebrachte Irrtrümer hinter sich zu lassen und zu zeigen, dass unsere Visionen von Arbeit, Wirtschaft und Ökologie lebbar sind.

Wir Stipendiat_innen teilen alle unsere ganz individuellen Erinnerungen an diesen Ort: die bis tief in die Nacht reichenden Bierkeller-Gespräche über die Perspektiven unserer Gesellschaft mit “Willy” an der Wand; wenn morgens das Licht über der Eifel aufgeht und beweist, dass es sich lohnt, die Hoffnung auf eine Politik, die ihren Namen verdient, nicht zu verlieren; die Klarheit darüber, dass wir die Dinge tun, weil sie uns etwas bedeuten und nicht weil wir nur dem Geld oder der Macht hinterher rennen, wenn wir begeistert feststellen, was das Personal im ganzen Haus jeden Tag für kleine Wunder vollbringt. Diese Vorstellungen verbinden uns Stipendiat_innen und schaffen Identität, die sonst gelegentlich vermisst wird. Mit der Akademie möchten Sie uns genau diese Gemeinschaft nehmen – genauso wie allen anderen Zehntausenden Seminarteilnehmer_innen, für die dieses Haus ein Teil ihrer eigenen Biografie geworden ist.

Gegen die Entscheidung regt sich überall Widerstand: SPD-Ortsvereine haben sich positioniert, Online-Petitionen wurden ins Leben gerufen, Leserbriefe geschrieben. Selbst der CDU haben Sie die Chance zur berechtigten Kritik geliefert: Selbst wenn man “wirtschaftliche” Gründe für wichtig erachten würde, sollte auch bedacht werden, dass die “Wirtschaft” nicht die Friedrich-Ebert-Stiftung ist, sondern Bad Münstereifel auch ein Ort, der wie kaum ein anderer in der Region von seinen Besucher_innen lebt.

Die "KSA" in Bad Münstereifel bietet schöne Ausblicke: darauf, wie wir in Zukunft leben wollen und was Demokratie wirklich bedeutet. (Foto: privat)
Die „KSA“ in Bad Münstereifel bietet schöne Ausblicke: darauf, wie wir in Zukunft leben wollen und was Demokratie wirklich bedeutet. (Foto: privat)

Kühl lassen Sie in der Objektbeschreibung schreiben: “Insgesamt rd. 1.333 Quadratmeter Nutzfläche, 22 Gästezimmer, Seminarräume, … diverse Schulungs- und Aufenthaltsräume”. Doch dieses Haus bedeutet mehr als ein Kaufpreis, seine Pat_innen sind mehr als “sozialverträgliche Lösungen”, und seine Gäste nicht einfach Urlauber_innen auf der Suche nach “erholsamer Ruhe”.

Sollten Sie bei Ihrer Entscheidung bleiben, geben Sie vielen jungen Menschen, die in der Hoffnung auf eine neue echte Sozialdemokratie Teil der Friedrich-Ebert-Stiftung geworden sind, den letzten Hieb. Irgendwann könnte es kaum noch jemanden geben, die oder der die Kraft dazu hat, ein letztes Mal beide Augen zuzudrücken, wenn gemeinsame Werte verraten werden.

Wir bitten Sie: Revidieren Sie Ihre Entscheidung und ermöglichen Sie, dass die Kurt-Schumacher-Akademie Ihre Arbeit fortsetzen kann!

Hochachtungsvoll,
Die unterzeichnenden Stipendiat_innen der Friedrich-Ebert-Stiftung

Alexander Vowinkel, Michael Hermann, Daniel Stenzel, Marina Finnern, Florian Schluckebier, Matti-Léon Klieme, Jonathan Roth, Anna Zachmann, ulian Wacker, Philipp Schmidt, Wesam Mohammed, Philipp Schultheiss, Ninon Franziska Thiem, Theresa Krause, Aida Khachatrya, Daniel Schreiner, Kristina Ulm, Maximilian Locher, Kena Henrietta Stüwe, Steven Seifert, Sarah Zitterbarth, Sylvia Gaßner, Janna Articus, Maura Magni, Kai Burmann, Julian Schweitzer, Anja Folberth, Stefan Brach, Anne Overbeck, Paul Sobota, Hans-D. Müller, Marc Frick, Angelika Schenk, Aneska Bongartz, Ines Strohm, Christina Meiser, Arndt-Hendrik Zinn, Charly Heberer Paul Löwe, Victor Pacyna, Christian Ziem, Annika Giersiepen, Lena Sterzer, Martin Musch, Alexander Konrad, Anna Steinmann, Florian Heusinger von Waldegge, Aljoscha Ziller, Sebastian Wenz, Laura Heeder, Tim Hoff, Marius Mazziotti, Maya Modrow, Julian Schäfer, Julia Caspers, Stefan Plenk, Benjamin Werner, Sven Gramstadt, Jürgen Tobisch, Tom Schmidt, Timo Wölfl, Thilo Sander, Marcel Will, Tizian Relke, Eva Schüle, Jan Luca Naumann, Christoph Schlimpert, Tim Steinmetzge, Lynn Schmittwilken, Benjamin Eurich, Mirko Griesel, Miriam Noa, Simone Karlstetter geb. Wieland, Richard Kemmerzehl Michaela Höfler, David Tchakoura, Bianca Ritter, Marius Grünewald, Björn Reschke, Marcel Fernandes, Katja Albers, Nele Zareh, Raana Ghazanfarpour, Ruben Werchan, Valentin Ludwig, Lukas Krüdener, Anja Thuns, Ruth Malzkorn, Ksenia Kuleshova, Jonas März, Elisabeth-Dorothea Lutz, Magdalena Wagner, Franziska Ulrich, Jaqueline Zipfel, Jonas Ganter, Alexander Ziegler, Jan Willing, Matthias Genchi, Denes Kücük, André Pfannenschmidt, Sebastian Lotto-Kusche, Ulrich Sattler, Friedrike Preu, David Soto Setzke, Jonas Jordan, Patrick Böhm, Benjamin Weber, Konstantin Flemig, Sabrina Schmidt, Christiane Buhl, Moritz Piffko, Dominik Felix, Sophie Gatzsche, Runa Wohlthat, Iris Goldschmidt, Marie Johanna Trautmann, Sophia Hunger, Sarah Langenstein, Frank Echsler, Kai Burmann, Madlen Schäfer, Matthias Krülls, Lukas Jerg, Helena Bechtle, Marlene Weck, Salome Adam, Martina Sand, Walid Malik, Tim Göbbels, Martin Schröder, Waleria Nichelmann, Flora Fabri, Lisa Hartlmüller, Susanne Czaja, Aylin Berktas, Lorena Mohr, Lisa Kühn, Katrin Hofmann, Abigail Suwala, David Siedke, Fillip T, Christoph Becker, Jan Gregor Triebel, Christian Günthner, Duygu Tut, Franziska Kaiser, Matthias Glomb, Sebastian Jakob, Christian Böttcher, Ann-Kristin Lensing, Iskandar Ahmad Abdalla, Frieder Kurbjeweit, Kuleshova Ksenia, Anastasiia Lebedeva, Denis Newiak, Therese Schedifka

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20 Jahre ViP: Ein Fest für progressive Mobilität in Ballungsräumen

Als am vergangenen Montag nach einem schweren Verkehrsunfall auf dem südlichen Berliner Ring die Verkehrs-Hauptschlagader weiträumig gesperrt werden musste, waren auch Potsdams Straßen innerhalb kürzester Zeit praktisch unpassierbar: Auf dem sonst wenig ausgelasteten Horstweg oder Heinrich-Mann-Allee reihten sich Fahrzeuge samt entnervter Fahrer_innen bis in die Wohngebiete. Auch wenn zahlreiche Auto-Nutzer_innen auf ihre Fahrzeuge angewiesen sind, haben sich die meisten am Steuer sicherlich gewünscht, an diesem Tag den Zündschlüssel zuhause gelassen zu haben: Während sie im Stau steckten, rauschten die Straßenbahnen des Verkehrsbetriebs Potsdam an ihnen einfach vorbei.

Seit 20 Jahren wird der öffentliche Personennahverkehr in Potsdam von der ViP betrieben. Busse, Fähren und Straßenbahnen sorgen dabei für eine enorme Entlastung in vielerlei Hinsicht: Ihre regelmäßige Nutzung ist nicht nur erheblich günstiger als die eines eigenen PKWs, sondern auf den Personenkilometer auch erheblich günstiger für die Umwelt; die Straßenbahnen werden sogar aus regenerativen Quellen gespeist und fahren so klimaneutral. Wer ehrlich zu sich selbst ist, wird auch eingestehen, dass die Nutzung eines öffentlichen Verkehrsmittel letztlich komfortabler ist: Hier lässt man sich fahren und kann die Zeit effektiv nutzen, statt sich hinter dem Steuer selbst die Zeit zu klauen und noch dazu dem Risiko auszusetzen, in einem Unfall verwickelt zu werden oder selbst einen folgenschweren Fehler zu machen. Vor allem schaffen es „die Öffentlichen“ aber, die ohnehin vor dem Platzen stehenden Verkehrswege in Potsdam zu entlasten: Sie verbrauchen kaum knappen Verkehrsraum und transportieren zum Teil hunderte Menschen in einem Fahrzeug zugleich. Durch die ständige Kommunikation von Bussen und Straßenbahnen mit den Lichtsignalanlagen verschwenden die Fahrzeuge dank kluger Planung kaum Zeit zum Stehen oder Schleichen – halten müssen sie in der Regel nur, wenn Fahrgäste ein- und aussteigen möchten. Oder wenn mal wieder ein gedankenloser Autofahrer in letzter Sekunde vor der Bahn die Gleise passieren wollte oder die Schienen zugeparkt hat. Autos wiederum müssen oft nur stehen, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind, und ziehen nutzlose Runden, weil sie keinen Parkplatz finden.

Auch wenn der Betrieb der öffentlichen Verkehrsmittel Millionen ausmacht, bringt er enorme wirtschaftliche und ökologische Vorteile, die größer sind als die durch sie entstehenden Kosten. Dass sie in Potsdam von einem städtischen Unternehmen ohne Profit-Interessen betrieben werden, macht ihre Nutzung so erschwinglich. Ein Blick in andere Länder zeigt, dass das keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist.

Das Jubiläum ist auch eine Gelegenheit, auf die Probleme zu schauen: Gerade im Regionalverkehr fehlt es an guten Verbindungen bis in die weniger besiedelten Regionen. Hier müssten Takte verengt, zusätzliche Haltestellen bedient statt abgeschafft und zumindest an den Stadtgrenzen mehr „Park-and-Ride“-Parkplätze geschaffen werden, die ein Umsteigen in öffentliche Verkehrsmittel attraktiv machen. In der Stadt selbst schlummern dabei unnötige Gefahrenquellen: Die vielen neuangelegte „überfahrbaren Kaphaltestellen“ am Rathaus, in der Berliner Straße oder Charlottenstraße sind für Fahrgäste ein potentielles Risiko, wenn sie zwischen Fahrzeug und Gehweg wechseln müssen, während zeitgleich rücksichtslose gemeingefährliche Autofahrer_innen in die Haltestellen einfahren, oft mit mörderischem Tempo. Den Bus- und Straßenbahnfahrer_innen bleibt nicht viel mehr übrig als mit Warnblinkanlage und Außensprechanlage auf sich aufmerksam zu machen – doch vielen PKW-nutzenden Menschen sind ihre (wenn überhaupt) wenigen gewonnen Sekunden so wertvoll, dass sie dafür das Leben anderer riskieren. Der tödliche Unfall in der Zeppelinstraße zeigt: Wenn überfahrbare Haltestellen eingerichtet werden, müssen sie während der Nutzung durch Bus oder Straßenbahn für den übrigen Verkehr gesperrt werden („dynamische Haltestelle“) und Missachtungen der Pflicht zum Halt während eines Fahrgastwechsels streng geahndet werden. Zugleich sollten sich Fußgänger_innen und vor allem Fahrradfahrende ihrer Verwundbarkeit bewusst sein: Gerade weil sie besonders verletztlich gegenüber motorisierten Fahrzeugen sind, müssen sie sich – allein schon zu ihrer eigenen Sicherheit – besonders an die Verkehrsregeln gebunden fühlen. Jede Gefahrenbremsung, die zum Schutz von abgelenkten, unvorsichtigen oder schlicht ignoranten anderen Verkehrsteilnehmer_innen durchgeführt werden muss, gefährdet zudem immer die Fahrgäste, die sich durch die starke Bremswirkung im schlimmsten Fall schwere Verletzungen zuziehen können.

Laut Bundesamt für Statistik bleibt die Nutzung der Straßenbahn im Verhältnis zu der von ihr beförderten Fahrgäste das mit Abstand sicherste Verkehrsmittel überhaupt. Auf eine Fahrt mit dem PKW kommt das Risiko eines Unfalls nach tausend Straßenbahn-Fahrten. Das schafft nicht einmal das Flugzeug. Das sollten wir feiern.

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Der weiße Adler zieht von dannen, Kunstfreiheit und das Politische folgen ihm

Zum Abschuss freigegeben: Kunstwerk von Peter Kulka im Brandenburger Landtag (Bild: Julian Nitzsche, CC-Lizenz)
Zum Abschuss freigegeben: Kunstwerk von Peter Kulka im Brandenburger Landtag (Bild: Julian Nitzsche, CC-Lizenz)

Wenn man sich als Student einer Kunstwissenschaft mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Politik und Kunstfreiheit auseinandersetzt, scheint es, als würde es sich stets um eine historische oder zumindest ferne Diskussion handeln: Staatliche Eingriffe in das Schaffen von Künstlerinnen und Künstlern verortet man vielleicht in der DDR oder im Herrschaftsgebiet irgendwelcher Despoten jenseits unserer Breiten. Dass man weder zeitlich noch örtlich weit reisen braucht, um ein zumindest streitbares staatliches Kunstverständnis zu beobachten, lässt sich wohl nirgendwo so typisch nachvollziehen wie in Potsdam: Mitte letzten Jahres musste sich Architekt Rainer Becker rechtfertigen, warum er mit dem „Gitter“ am Panoramafenster des neuen Potsdam-Museums eine ‚Sichtachse‘ auf das umstrittene Landtagsschloss zustelle, der Berliner Lutz Friedel musste Rede und Antwort stehen, warum er es wage, eine Ausstellung in einem Landtag zu eröffnen, bei dem auch verfremdete Bilder von früheren Diktator_innen neben denen von Held_innen hängen, und monatelang schien es keine wichtigere Fragen zu geben als die, wann Peter Kulkas ‚weißer Adler‘ endlich Platz mache für das vermeintlich allseits so geliebte rote Wappentier des Landes. Die öffentliche Diskussion war berechtigt, genau diese macht Kunst erst interessant. Aber die martialische Rhetorik des Verbots seitens der Politik war überflüssig und verfassungsrechtlich bedenklich. Sie stellte nicht nur das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung in Frage, sondern verbrannte auch wertvolle Ressourcen, die man für die wirklich wichtigen Fragen in Stadt und Land gebraucht hätte, denn statt über die wachsende Ungleichheit zwischen den Potsdamer Stadtteilen oder zwischen Stadt- und Landbevölkerung im Land und über die Würde des Menschen in einer veralteten Wirtschaftsordnung zu debattieren, erlebte die Bevölkerung Diskussionen um die Würde des Stadtschlosses. Auf Stadtschlösser kann man verzichten, auf Menschen nicht. In Stadtschlössern diskutiert es sich aber auch gut über Nichtigkeiten, während man bei steigenden Mieten, harter Arbeit und winzigem Einkommen jenseits der Preußenfassade natürlich andere Sorgen hat.

So ist es kein Wunder, dass professionelle Politiker_innen gern auf den Zug der Kunstverschmähung aufgesprungen sind, viele von ihnen sind schließlich dafür bekannt, gern Scheindebatten zu führen, um wichtigen inhaltlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Schließlich ist es komfortabler für einen CDU-Menschen wie Dieter Dombrowski oder Beate Blechinger, sich der eigenen konservativen Wählerschaft gegenüber als kämpferische Retter_innen des angeblich identitätsstiftenden Symbols zu inszenieren. Dass sich wohl die meisten Menschen eher mit Werten von sozialer Gerechtigkeit und Freiheit als mit eingefärbten Greifvögeln identifizieren, wäre schon zu politisch für die Politik, wie wir sie heute erleben müssen. Selbst die Ritter der „Freiheit“ von der FDP, von denen man wenigstens in dieser Diskussion Besinnung auf die Grundwerte – wenn auch zumindest nur zu Profilierungszwecken – hätte erwarten können, griffen fataler Weise zu kriegsverherrlichenden Kampfparolen und damit selbst für ihre Verhältnisse erstaunlich weit daneben, wie der Abgeordnete Gregor Beyer mit „Seine Fahne trägt man hoch – und wenn es das Schicksal will, fällt man auch darunter“ wohl kaum sich selbst gemeint haben will, denn das Auskommen als Landtagsabgeordneter ist eben doch komforabler und ungefährlicher als im realen Auslandseinsatz: Hier werden Leben nicht von Soldat_innen, sondern vor allem der örtlichen Zivilbevölkerung genau für diesen mörderischen Pathos vernichtet. Eine Entschuldigung für solche sprachlichen Verirrungen in einem deutschsprachigen Landtag ist von den um Bedeutung ringenden Pseudo-Liberalen kaum zu erwarten.

So bleibt bei den Diskussionen ein mulmiges Gefühl zurück: Dass es in unserem Land keine Politiker_innen im engeren Sinne mehr gibt, sondern nur noch austauschbare Gesichter, die von Plakaten herabgrinsen, ohne politisch zu sein, dass man in unserem Land staatlich dazu genötigt wird, seine eigenen Kunstwerke zu deuten, um ihre Existenzberechtigung nachzuweisen, auch wenn das nichts mehr mit Freiheit der Kunst zu tun hat, und dass auch die letzten Reste an Vernunft und Kritik aus dem neuen Landtagsschloss getilgt werden sollen. Statt dem ohnehin völlig überflüssigen Preußenschloss wenigstens einen Hauch von Moderne zu verleihen, hat man sich dafür entschieden, vergangene Werte aus vergangenen Zeiten wiederzubeleben. Wer weiß, ob die Protagonist_innen dieser Debatte noch stolz unter ihrem „roten Adler“ in ihrem Landtag stünden, wenn sie wüssten, wie Kunstwissenschaftler von morgen über ihre Geschichte schreiben.

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Starke Kinder auf der 64. Berlinale in deutschen Wettbewerbsfilmen: „Kreuzweg“ und „Jack“

Kinder spielen in den meisten menschlichen Kulturen die zentrale Rolle: Als künftige Generation tragen sie unsere heutigen Errungenschaften und Erinnerungen in die Zukunft, lernen aus den Fehlern ihrer Vorfahren und werden so befähigt, eine lebenswertere Gesellschaft zu verwirklichen. Kinder sind auf den besonderen Schutz, die Fürsorge und das Wissen von Älteren angewiesen, seien es die Eltern, die Erzieher_innen in Kindergärten, Lehrer_innen in Schulen oder Trainer_innen in Sportvereinen. Kein Tier bleibt so lange bei seinen Eltern wie der Mensch. Es macht uns erst zu Menschen, dass wir unseren Kindern auf den Weg geben, was sie brauchen, um in dieser Welt zu bestehen und sie zu verändern.

So läuft es im Idealfall. Wie es unserem Nachwuchs wirklich ergeht, machen sich in diesem Jahr gleich alle deutschsprachigen Filme im Wettbewerb um die Berlinale-Preise zum Thema – und profitieren nicht nur von starken Drehbüchern, sondern noch stärkeren Jung-Darsteller_innen, die Schauspielleistungen an den Tag legen, wie man sie sich gelegentlich von hochbezahlten „Profis“ wünschen würde.

Jack muss sich und seine Bruder in Berlin selbst retten. (Bild: Jens Harant - berlinale.de)
Jack muss sich und seine Bruder in Berlin selbst retten. (Bild: Jens Harant – berlinale.de)
„Jack“ (Ivo Piezcker) ist erst zehn Jahre alt, doch weil seine alleinerziehende Mutter lieber den Vergnüglichkeiten des Berliner Großstadtlebens als ihren Pflichten nachgeht, muss er den Haushalt wie ein Vater schmeißen: Wäsche waschen, sauber machen, Essen zubereiten. Vor allem kümmert er sich liebevoll um seinen noch jüngeren Bruder Manuel – Beide haben nur einander. Die Strapazen stehen Jack ins Gesicht geschrieben: Verschwitzt, mit rotem Gesicht und stets schwerem Atmen rennt er umher, mit ernstem Blick und dem Gewissen, dass es von ihm abhnägt, die Familie mit ihm steht und fällt. Als sich bei einem Unfall im Haushalt zeigt, dass Jack am Ende seiner Kräfte ist, muss er ins Heim. Vor Schikanen flüchtend, sucht er zuhause Zuflucht, doch seine Mutter taucht tagelang nicht auf und einen Schlüssel für die Wohnung hat er nicht. Er rettet seinen Bruder aus der Verwahrlosung bei einem „Bekannten“ (der froh ist, das Kind endlich wieder los zu sein und sich wieder voll und ganz Suff und Langeweile hinzugeben), zieht mit dem Kleinen durch Berlin auf der verzweifelten Suche nach Geborgenheit der Mutter, schleppt sich erschöpft von Parkbank zu Döner-Imbiss, sucht Verstecke und flüchtet vor Brutalität. Als er letztlich doch auf seine Mutter trifft, die so gedankenlos weiterlebt wie bisher, muss er handeln – und weist sich und Manuel selbst ins Heim ein. So stark muss man erstmal sein.

Während Jack mit seinem Bruder eine schier unerträgliche Odyssey in Berlin erlebt, zieht er durch seelenlose Kaufhäuser, sieht teilnahmslos in den Clubs gammelnde Zugedröhnte, die in ihrem untoten Dasein nicht mehr erkennen können, dass ein Kind zwischen Drogen und Exzess nichts zu suchen hat, erlebt die Ideenlosigkeit von überforderten Erwachsenen, die jedes Problem deligieren, statt selbst zu handeln. Es ist keine „wunderbare“ Metropole Berlin, in die man sich verlieben könnte, welcher wir einer hoffnungslosen Romantik zuliebe ihre Schatten verzeihen könnten. Es ist ein trauriger, unregierbarer Sumpf, in dem Ignoranz, Boshaftigkeit und Armut zu herrschen scheinen. In einer solchen Welt leben zu können, ist keine Selbstverständlichkeit, schon gar nicht für ein Kind. Doch gemeinsam mit Jack erleben wir diese groteske Welt durch die Augen eines Kindes, der sich nur sehnt nach einem Zuhause, Zuneigung, Menschlichkeit. Es hängt alles nur noch an der Willensstärke und dem Mmut dieses Jungen, was ermöglicht, dass dieses Abenteuer irgendwie halbwegs gut aus gehen kann.

Maria wird geopfert. (Dietrich Brüggemann - berlinale.de)
Maria wird geopfert. (Dietrich Brüggemann – berlinale.de)
Wer mit der Biografie Jesu Christi im Groben vertraut ist, kann wiederum erahnen, dass ein Film mit dem Titel „Kreuzweg“ ein böses Ende nehmen müsste. Dietrich Brüggemann erzählt in diesem konsequent strukturierten Drama den Leidensweg der 14-jährigen Maria. In 14 Tableuas erzählt der Film vom schrittweisen Niedergang dieser biblisch erscheinenden Figur. Auch hier steht eine beeindruckende Jungschauspielerin vor der Kamera, die dieser Rolle eine erschreckende Authentizität verleiht: Von den fundamentalistischen Ansichten einer Priesterschaft und ihrer streng katholizistischen Familie vollkommen eingenommen, versucht sie, ihr Leben im Widerspruch zwischen den Erfordernissen des Alltags und dem Irrsinn des religiösen Fundamentalismus zu organisieren. Doch wie soll das in einer modernen Welt möglich sein, wenn jeder Griff in die offene Keksschale, jede Unterhaltung mit einem gleichaltrigen Jungen oder nur Wunsch, Gospelsongs im Kirchenchor zu singen als amoralisch, böse oder dämonisch verurteilt wird? Von der Fähigkeit dieses Mädchens, das keinen Platz auf Erden einnehmen darf, diesen schwierigen Weg mit einer Form von Stolz und Überlegenheit zu gehen, wird man als Zuschauer_in eingenommen. Doch Maria muss scheitern: Von dem wahnsinnigen Glauben vereinnahmt, sie müsse ihr Leben opfern, um dem mit Krankheit belegten Bruder zu Gesundheit zu verhelfen, wird Maria immer schwächer, kränker und erstickt letztlich auf der Intensivstation an einer Hostie bei ihrer Last-Minute-Konfirmation. In Szenen wie diesen erzeugt Brüggemann eine unglaubliche Fremdscham für die Figuren, die Maria ins Verderben führen: Die Mutter, die die Familie wie eine Sekte führt, der Religionslehrer, der die „Bravo“ als Teufelswerk sieht, oder der Pfarrer im Beichtstuhl, der kaum relevantere Gedanken entwickeln kann als man sie abendlich an einem McDrive-Schalter erlebt. Grotesk erscheint diese Welt, wo Priester 14-Jährige wegen ihres Sexuallebens ausfragen und verurteilen, gemischter Sportunterricht als „moderner Unsinn“ abgeurteilt wird und die Mutter nach dem Tod anscheinend nur noch die Hoffnung hat, dass ihr Tochter selig gesprochen wird. All diese zurückgebliebenen Rituale wirken mittelalterlich, selbst im Vergleich zu den nicht immer glanzvoll dastehenden zivilisatorischen Sondereinrichtungen und Ritualen unserer westlichen Gegenwart: Eine Schule funktioniert immernoch besser als der Unterricht in der Bruderschaft, bei einem verantwortungsbewussten Arzt kann man sich immernoch besser aussprechen als in einer trostlosen Familie, selbst der Bestatter kann mit seinen eingeübten Standardsätzen mehr Trost spenden als der Bagger auf dem christlichen Friedhof, der Marias Grab zuschüttet.

Was uns an diesen Filmen Angst machen muss, ist, dass es keine fremde Welt ist, die hier zusammenbricht. „Kreuzweg“ und „Jack“ erzählen nicht von fremden Ländern und Kulturen, konstruierten Phantasmen oder irrealen Alpträumen. Es ist unsere Welt, die hier zerfällt. Es sind unsere Kinder, die verlassen in der Welt umherirren, um ihren Platz zu finden. Es ist aber auch nur diese Welt, die eine Chance bieten kann, um das Leben zu einem besseren zu machen: Ein Allgemeinmediziner, der sich seiner Pflicht bewusst ist, dass er ein misshandeltes Kind nicht wieder in die Hände seiner gescheiterten Eltern geben kann; ein Au-pair-Mädchen, das ihre Liebe zu Gott und ein Leben im Hier und Jetzt miteinandner verbinden und davon reden kann; eine Heimerzieherin, die trotz schwieriger Bedingungen versucht, ihr Bestes zu geben. Es hängt von diesen einzelnen Menschen ab, ob wir morgen in einer Welt leben können, in der wir nicht nach Erlösung schreien müssen, in der wir nicht verloren gehen. Wenn Film uns davon erzählen kann, ohne in Klischees zu verfallen oder profan zu werden, hat er verdient, auf diesem Festival gewürdigt zu werden.

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Mein Programm für die 64. Berlinale

Wie im vergangenen Jahr bin ich auch in diesem Februar wieder als Volunteer bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin tätig. Für mich ist es nicht nur eine Chance, zum Gelingen des Festivals im Friedrichstadt-Palast einen bescheidenen Teil beizutragen, sondern mir auch wieder einen umfangreichen Überblick zur aktuellen Filmkunst aus aller Welt verschaffen zu können. Hier ist mein geplantes Programm für die kommenden zehn Tage:

Donnerstag, 6. Februar 2014

21.30 Uhr – „The Grand Budapest Hotel“ (Friedrichstadt-Palast)

Freitag, 7. Februar 2014

21.00 Uhr – „American Hustle“ (Friedrichstadt-Palast)

Samstag, 8. Februar 2014

12.00 Uhr – „La voie de L’ennemie“ (Two Men in Town) (Friedrichstadt-Palast)
15.00 Uhr – „’71“ (Friedrichstadt-Palast)
18.00 Uhr – „Jack“ (Friedrichstadt-Palast)

Sonntag, 9. Februar 2014

18.00 Uhr – „The Monuments Men“ (Friedrichstadt-Palast)
21.00 Uhr – „The Turning“ (Friedrichstadt-Palast)

Montag, 10. Februar 2014

12.00 Uhr – „Nymphomaniac Volume I (long version)“ (Friedrichstadt-Palast)
15.30 Uhr – „Historie del miedo“ (Friedrichstadt-Palast)
18.00 Uhr – „Kreuzweg“ (Friedrichstadt-Palast)
21.00 Uhr – „A Long Way Down“ (Friedrichstadt-Palast)

Dienstag, 11. Februar 2014

12.30 Uhr – „Kraftidioten“ (Friedrichstadt-Palast)
15.30 Uhr – „Aimer, boire et chanter“ (Life of Riley) (Friedrichstadt-Palast)
18.00 Uhr – „Tui Na“ (Blind Massage) (Friedrichstadt-Palast)
21.00 Uhr – „Dans la cour“ (In the Courtyard) (Friedrichstadt-Palast)

Mittwoch, 12. Februar 2014

18.00 Uhr – „Praia do futuro“ (Friedrichstadt-Palast)
21.00 Uhr – „César Cháves“ (Friedrichstadt-Palast)

Donnerstag, 13. Februar 2014

10.00 Uhr – „Kuzu“ (The Lamb) (Cinemaxx 7)
12.30 Uhr – „Risse im Beton“ (Cinemaxx 7)
15.00 Uhr – „La tercera orilla“ (The Third Side of the River) (Friedrichstadt-Palast)
18.00 Uhr – „Bai Ri Yan Huo“ (Black Coal, Thin Ice) (Friedrichstadt-Palast)
21.00 Uhr – „Aloft“ (Friedrichstadt-Palast)

Freitag, 14. Februar 2014

12.30 Uhr – „Boyhood“ (Friedrichstadt-Palast)
16.00 Uhr – Berlnale Shorts IV (Cinemaxx 5)
21.00 Uhr – „Hundraåringen som klev ut genom fönstret och försvann“ (The 100-Year-Old Man Who Climbed Out the Window and Disappeared) (Friedrichstadt-Palast)

Samstag, 15. Februar 2014

12.30 Uhr – „La belle et la bête“ (Beauty and the Beast) (Friedrichstadt-Palast)
15.15 Uhr – „Chiisai Ouchi“ (The Little House) (Friedrichstadt-Palast)
18.30 Uhr – „Macondo“ (Friedrichstadt-Palast)
21.30 Uhr – „Das finstere Tal“ (The Dark Valley) (Friedrichstadt-Palast)

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Vier Schwarz-Rote Jahre wären vier verschenkte Jahre

Im Jahr 2010 wurde das Wort „alternativlos“ zum „Unwort des Jahres“ gewählt. Die Jury begründete ihre Entscheidung, ein solches Wort suggeriere, „dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe“. Auch wenn die SPD mit dem Mitgliederentscheid über die Neuauflage des schwarz-roten Bündnisses lobenswerter Weise tatsächlich ‚mehr Demokratie wagt‘ (und sie, wie das Bundesverfassungsgericht richtig erkannt hat, nicht etwa bedroht, wie es Mariette Slomka im ZDF „Heute Journal“ aus völliger Unkenntnis heraus behauptet hat) und aller Zeitnot zum trotz den Weg einer (wenn auch spärlichen, aber zumindest vorhandenen) breiten öffentlichen Diskussion geht, erinnern die heute in Kommentaren, Stellungnahmen und am Stammtisch gewählten Worte leider zu oft an die Rhetorik der vermeintlichen „Alternativlosigkeit“: Schwarz-Rot würde den angeblichen „Wählerwillen“ am besten darstellen, Neuwahlen würden Deutschland ins Ungewisse stoßen, viele wichtige soziale ausgehandelte Anliegen wie Mindestlohn, Mietpreisbremse und Finanzmarktregulierung würden nicht verwirklicht werden können.

Tatsächlich finden sich im Koalitionsvertrag zahlreiche sozialdemokratische Positionen, die das Leben vieler Menschen verbessern würde. Doch die zentralen Probleme unserer Gesellschaft bleiben im Wesentlichen unerwähnt: Die zunehmende Verschärfung der Einkommens- und Besitzverhältnisse zwischen Arm und Reich, die inhärente Tendenz des bestehenden Wirtschaftssystems zu schlecht bezahlter Arbeit und zu chronischer Arbeitslosigkeit, das Diktat von Profit, Gier und Verschwendung – auf all diese Kernfragen, die gesellschaftlichen „Krankheiten“ unserer heutigen Zeit, bemüht sich der Vertrag nicht einmal im Ansatz um irgendwelche Antworten. Auch das auf dem Sterbebett liegende heutige Europa, das an einer blinden und mörderischen Sparpolitik zu zerbrechen droht, spielt keine essentielle und angemessene Rolle. Stattdessen kümmert sich der Vertrag um das „Drehen an Stellschräubchen“, das „Rumdoktern an den Symptomen“, ohne die Ursachen für die krassen Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Was Schwarz-Rot verfassungswidrig machen könnte: die praktische Entmachtung der kaum messbaren Opposition.

Natürlich wäre es naiv, vom Vertragswerk zu einer Koalition der größtmöglichen Apolitik und maximaler Gestaltungsverweigerung mit Angela Merkel als personifizierte Politikverdrossenheit an der Spitze etwas anderes zu erwarten als einen bunten Strauß von Problemverschiebung, Rückwärtsgewandtheit und „Weihnachtsgeschenken“. Dabei könnte sich zumindest der christliche Flügel der CDU, sofern er noch existiert oder wirklich jemals existiert hat, neuerdings ja sogar auf den Papst beziehen: Einschränkungsfrei zutreffend und erfrischend progressiv prangert er unverhüllt die mörderischen Kräfte des Kapitalismus an, fordert eine Wirtschaftsordnung der Gemeinschaftlichkeit. Sein Gesellschaftsbefund wäre eine gute Grundlage für einen Koalitionsvertrag, der den heutigen Verhältnissen angemessen ist.

Vor allem aber sollte jedes SPD-Mitglied, das in diesen Tagen seine Abstimmungsunterlagen erhalten hat, sich beim Ankreuzen auf dem Abstimmungszettel eines bewusst sein: Mit Rot-Rot-Grün gibt es im Deutschen Bundestag die Mehrheit für eine progressive Politik, die mehr könnte, als Grundsatzentscheidungen auf übermorgen zu vertagen. Die Entscheidung, dass ein solches Bündnis „regierungsunfähig“ sei, haben weder die Mitglieder der beteiligten Parteien, aber noch weniger die Wählerinnen und Wähler in der Bundesrepublik gefällt. Ich würde es als Verrat an den Werten der SPD und unserer Verfassung empfinden, in einer solchen historischen Situation einer Verwaltungskoalition zuzustimmen, der keine Antworten liefert.

Ich bin seit 2007 SPD-Mitglied und habe am Mitgliederentscheid teilgenommen.

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Tote vor Lampedusa sind eine Schande für Europa

Während eine kleine Gruppe Auserwählter abgeschottet von den Armutssiedlungen der Welt lebt, muss der Großteil der Menschen ums nackte Überleben kämpfen: Sie wühlen sich ohne den geringsten Schutz durch Berge von giftigem Müll auf der Suche nach ein wenig Altmetall, das sich verkaufen lässt; gehören sie zu den „Glücklichen“, überhaupt noch einen Job zu haben, lassen sie so manche Erniedrigung, Gefahr und die unwürdigste Bezahlung über sich ergehen, um eine Entlassung und die damit verbundene größte Not nicht zu riskieren. Dabei ermöglichen diese Menschen durch ihre harte Arbeit und ihr Leben in strengster Armut erst den Wohlstand, den die Gutgestellten jenseits der „Grenzen“ genießen. Wer dieses zynische Spiel nicht mehr ertragen kann und aus den Armenhäusern der Welt ausbrechen möchte, wird von „Grenzschützern“ abgefangen, eingesperrt, oft einfach erschossen. Die Privilegierten schauen weg und genießen ihren mörderisch erkauften Wohlstand, der so vielen Menschen mehr ein gutes Leben bereiten könnte, ohne dass die Reicheren wirklich auf etwas Nötiges verzichten müssten.

Dieses Bild einer „kranken Erde“, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse dermaßen pervertiert sind, dass es kaum noch ausdrückbar ist, zeichnete in diesem Sommer das US-amerikanische SciFi-Gesellschaftsdrama „Elysium“. Der Tod von weit über 300 Menschen vor der italienischen Insel Lampedusa bestätigt erneut, dass das filmisch Dargestellte keineswegs eine Übertreibung ist, im Gegenteil: Was auf unserer Welt schief läuft, lässt sich kaum noch erfassen, auch die Kunst ist mit ihren Kapazitäten an Metaphern und Formen an eine Grenze gekommen. Das tatsächliche Bild, dass tausende Menschen, die in der Europäischen Union Zuflucht und Hoffnung suchen, ihr Leben aufs Spiel setzen und dafür auch noch bestraft werden, ist kaum ertragbar. Nicht genug, dass die Grenzschutagentur Frontex in den vergangenen Jahren immer wieder Menschenrechtsverletzungen begangen hat: Dass Fischer im Mittelmeerraum nun dafür protestieren müssen, dass ihre Hilfe für in Seenot geratene Flüchtlinge, die sonst dem sicheren Tod geweiht wären, nicht strafbar bleibt, zeigt, dass die Europäischen Menschenrechte, auf die wir sonst so viel halten, nicht für alle Menschen gleichermaßen gelten. Das ist nicht nur eine Schande für die Organe der Europäischen Union, die es bis heute nicht geschafft haben, für die Flüchtlingssituation eine menschenwürdige Lösung zu finden, sondern auch für jeden Europäer, der fordert, Europa müsse sich mehr „abschotten“ und mit Flüchtlingen „härter verfahren“.

Mit dem Wohlstand, der in Europa und den übrigen wohlhabenden Regionen der Welt erzeugt wird, ließe sich das Leben Unzähliger retten, wenn dafür nur eine winzige Minderheit auf ihr verschwenderisches Leben verzichten würden. Die Superreichen, die mit ihren Millionen- und Milliarden-Vermögen die Werte aus der Gesellschaft abziehen, die nötig wären, um die vielen Bedürftigen der Welt mit Nahrung, Unterkunft und Medizin zu versorgen, müssen endlich in die Pflicht genommen werden, das Genommene an diejenigen zurückzugeben, die am Rande der Existenz leben. Denn die irdischen Armutsverhältnisse, die so viele Menschen nach Europa treibt, sind keine Naturgesetze, sondern die Folgen einer Politik, die Wenige privilegiert, während es den meisten schlechter geht, als es ihnen gehen müsste. Die Politik, die für die krassen Verhältnisse in den „Entwicklungsländern“ und das Gefälle zwischen den Regionen der Welt mitverantwortlich ist, muss endlich aufhören: Exporte von Agrarüberschüssen, künstlich gedrosselte Löhne in den wohlhabenden Nationen, moderne Kolonialbesatzungen durch westliche Landkäufe, sklavenähnliche Beschäftigungsverhältnisse und der Verkauf überteuerter Produkte ausländischer Monopolisten müssen der Vergangenheit angehören. Mindestens solange muss jedem Menschen, der in Europa Zuflucht vor Armut und Verfolgung sucht, zumindest das geboten werden, was ein Europäer erwarten dürfte: Menschenwürde.

Um auf solche Lösungen einer lebenswerteren und gerechteren Welt zu kommen, muss man nicht erst „Elysium“ oder den ebenso gesellschaftskritischen „Upside Down“ im Kino sehen. Diese Vision in die Tat umzusetzen, ist schon viel zu lange fällig – und für zu viele Menschen kommt die aktuelle Diskussion zu spät.

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Die Deutschen werden immer reicher ‒ zumindest die, die es sich leisten können

Am letzten Mittwoch konnte in den Zeitungen nachgelesen werden, dass wir in Deutschland irgendwie reich sein müssen – schließlich seien unser aller Geldvermögen erneut angewachsen: Die Bundesbank verkündete die gespenstische Zahl von knapp fünf Billionen Euro, die in deutschen Privathaushalten in Form von Geld, Wertpapieren und Versicherungsansprüchen schlummerten. Für die Bundesbank ist das nur eine Zahl, die sie jährlich veröffentlichen muss. Doch für die Öffentlichkeit soll diese Zahl in der Presse untermauern, wie gut es ‚uns‘ doch geht, dass wir keinen Grund zu jammern hätten, dass es sich unter den gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschaftsverhältnissen beinah „zu gut“ leben würde. Doch was bedeuten diese ominösen fünf Billionen Euro eigentlich?

Wenn wir diesen Betrag durch die mutmaßliche Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik teilen, ergibt sich, dass Jede und Jeder in Deutschland durchschnittlich etwas über 60.000 Euro an Geldwerten sein Eigen nennen kann, zum Beispiel jeweils gute 20.000 Euro auf dem Konto, in Aktien und über die Lebensversicherung. Aber was haben diese Werte mit den wirklichen Lebensverhältnissen in Deutschland zu tun? Ist es wirklich die Breite der Bevölkerung, die es sich leisten kann, mal eben eine Eigentumswohnung einfach „beiseite“ zu legen? Unter meinen Bekannten und auch in der engsten Familie fällt mir niemand ein, der über solche Beträge verfügen würde, im Gegenteil. Und auch ich selbst (wenn auch noch Student) spiele mit meiner Sammlung von zwei Dutzend Silbermünzen und einem Anteil bei der Wohngenossenschaft in einer anderen Klasse ‒ „außer Konkurrenz“

Was die Bundesbank nicht sagen muss, hat die Presse, die komplexe Sachverhalte für die Leserschaft verständlich und zugänglich machen soll, einfach eiskalt verschwiegen – nämlich, wem dieses viele Geld eigentlich gehört: Es ist nicht die Mehrheit der Leserschaft dieses Blogs, sondern vielmehr eine dünne Schicht von wirtschaftlich Bemächtigten, die in den gegenwärtigen Verhältnissen Kontakte, Erbe oder Glück gehabt haben. Zur Wahrheit gehört, dass in Deutschland fast zwei Drittel der Vermögen in den Händen des reichsten Zehntels liegt, während gut die Hälfte der Bundesbürger so gut wie überhaupt nichts und das ärmste Zehntel sogar noch weniger als nichts besitzt. Es ist die gleiche Wahrheit, die die Bundesregierung in ihrem letzten Armutsbericht auf den letzten Seiten versteckt hat ‒ denn diese Wahrheit ist vielmehr ein Armutsbericht für die Menschen, die diese Zustände durch mörderische Politik unterstützen oder sie zumindest nicht aktiv bekämpfen.

So geht es in dieser Statistik nicht um die Menschen, die in diesem Land leben, sondern um eine anonyme Masse von Staatsbürgern, von der man nur in Durchschnitten rechnen möchte. Vor allem schützt diese Weise des Schönredens eine herrschende Klasse von Reichen – indem sie den Durchschnitt nach oben verzerren, steht ihre Ideologie selbst als das Erfolgsrezept Deutschlands da. Wer wirklich etwas über die Gründe der „Konjunkturflaute“ in Deutschland (und auch im restlichen Europa und auf der gesamten Welt) erfahren will, sollte seine Untersuchungen differenzierter anstellen und die Ideologie lieber zuhause lassen. Was also eine solche abstrakte Zahl in den Nachrichten der für die breite Bevölkerung bestimmten Tageszeitungen zu suchen hat, bleibt ein Rätsel: Sie hat keinen Neuigkeitswert, ist für den Großteil der Leserschaft uninteressant und wenn überhaupt für die Fiskalpolitik relevant. Über das Leben der Menschen in Deutschland sagt sie nicht das Geringste.

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