Auch am zweiten Wochenende haben noch einmal 800.000 Menschen den zum Teil hysterisch erwarteten „Erotikfilm“ Fifty Shades of Grey gesehen, allein in Deutschland. Woher die Euphorie für die Romane und letztlich für die Verfilmung von Greys kleinen, anrüchigen Abenteuern kommt, ist in den letzten Jahren vielfältig diskutiert worden. So richtig überzeugend konnte das bisher aber niemand erklären.
Natürlich: Der Umgang mit Geschlechtlichkeit befindet sich heute – vor allem in den industrialisierten Gegenden, aber nicht nur dort – in einem dynamischen, meist progressiven Wandel. Und damit ist plötzlich auch alles ganz schön kompliziert geworden: Jede_r kann alles sein, alles verlangen, zum Glück auch alles ablehnen. Da sehnen sich manche Herrschaften nach den ‚guten alten Zeiten‘, als scheinbar unumstößliche gesellschaftliche Normen es leicht gemacht haben, das Zusammenleben zu organisieren.
Nun dämmert es allmählich den meisten, was zwischen „Mann“ und „Frau“ noch für Geschlechtlichkeiten versteckt werden, wie stark menschliche Beziehungen von Machtverhältnissen bestimmt wurden und weiter werden und dass ganz offensichtlich die heteronormierte Ehe doch nicht der letzte Stein der Weisen, zumindest nicht alternativlos, ist.
In verschiedenen Feuilletons hat sich somit eine Deutung inzwischen als „Lehrmeinung“ etabliert: dass der Film mit der dort vertragsartig regulierten „Beziehung“ irgendwie einen sympathisch ‚fairen‘ Ausgleich schafft, nachdem mit der Emanzipationsbewegung die Geschlechterkonfigurationen zugleich freiheitlicher wie auch unübersichtlicher geraten sind.
Die scheinbar naive Literaturstudentin Anastasia Steele und der Telekommunikations-Milliardär Christian Grey sind sich allem Anschein nach so ziemlich einig über das, was sie wollen und was sie nicht wollen. Der Rest scheint Verhandlungssache. Als würden zwischenmenschliche Beziehungen so funktionieren wie ein Mobilfunkvertrag.
Doch wer ein Handy hat, weiß selbst genau, dass auch der Preis für die Flatrate natürlich keine Verhandlungssache ist. Und selbst wenn es so einfach wäre, dann müsste Mr. Grey auch in keinem gläsernen Bürokomplex den Chef spielen und seinen Namen an alles kleben, was teuer oder edel aussieht. Er bräuchte seine neue „Eroberung“ nicht in Hubschrauber und Flitzer durch die schillernde Weltgeschichte gondeln. Er müsste Anastasia Steele noch nicht einmal in seinem sterilen Penthouse einquartieren.
Würde das wirklich reizvolle Thema von Fifty Shades of Grey der Umgang mit den neuen Spielarten von Geschlechtlichkeit sein, dann könnten Steele und Grey – um die ziemlich banalen Klischees der Vorlage weiterzuspinnen – auch einfach unter dem Mindestlohn bezahlte Servicekräfte sein, die sich am Küchentisch oder im Schnellrestaurant statt zum Gourmet-Geschäftsessen treffen, um vertraglich festzulegen, welche Praktiken sie miteinander durchexerzieren möchten.
Diese Menschen hätten aber wohl ganz andere Sorgen, als sich vereinbarungsgemäß durchpeitschen zu lassen, das besorgen schon ganz andere, und selbst wenn man darauf Lust hätte, müsste erst einmal das Geld da sein, um sich „Spielzimmer“ samt Inventar leisten zu können.
Sehr wahrscheinlich liegt die Faszination also nicht in den erschreckend unerotischen Darstellungen auf Greys roter plüschiger „Spielwiese“, sondern in dem, was die Figur „Grey“ als solche bedeutet, was wir in ihr erkennen können. Der Spiegel hatte einst zum Roman geschrieben, dass wenn die Geschichte „ein Porno ist, dann ist es ein Kapitalismus-Porno“: Eben nicht die „Sadomaso“-Praktiken seien die Perversion, sondern die Bilder von absurdem materiellen Reichtum, den Grey ohne angemessene Anstrengungen anhäuft, die Bilder von den phallischen Wolkenkratzern, die zum Zeichen der finanzkapitalistischen Welt geworden sind, weil in ihnen einige Mächtige das Schicksal der Welt dirigieren.
Eine solche Schaulust in Bezug auf die Dekadenz unserer Zeit muss im Lichtspiel noch besser funktionieren als im Buch, denn hier kann das Publikum ein Leben sehen, welches für dieses niemals erreichbar sein kann. Und sie funktioniert hier noch besser als bei The Wolf of Wall Street, weil der gezeigte Exzess irgendwie erschreckenderweise zu glaubwürdig wirkt.
Doch der wirkliche Schrecken besteht nicht im Anblick dieser Schau der materiellen Völlerei, sondern dass wir die hässliche Fratze des Kapitalismus in der Figur „Grey“ selbst erkennen: So nett, wie er uns im Interview für das Studierendenmagazin angrinsen soll, lächeln uns auch die Versprechungen der Konsumwirtschaft auf Produktoberflächen und Werbebildern an, nur um uns fett, abhängig und arm zu machen.
So gönnerhaft uns Mr. Grey für nur ein paar ‚kleine Zugeständnisse‘ ein aufregenderes Leben verspricht, so sollen wir gefälligst auch der Marktwirtschaft mit ihren ‚selbstlosen‘ Angeboten die Füße küssen – als würde sie für uns da sein, und nicht wir für sie.
Die Spitze macht die Rolle von Grey als selbsternannten „Entwicklungshelfer“: Wer sich alles und jede_n nimmt, der kann natürlich auch den Großzügigen spielen. Tatsächlich entstehen durch Greys – also marktwirtschaftliches – Handeln erst Armut, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung. Das Grinsen des verkörperten Kapitalismus – es war, wie schon bei Norman Bates, viel zu nett, um wahr sein zu können.
In diesem schmächtigen Lächeln sehen wir die verführerische Macht der Wirtschaftsordnung, aber auch ihre Schwäche, ihre Anfälligkeit. Fifty Shades of Grey ist also tatsächlich eine körperliche Tyrannei, aber keine geschlechtliche, sondern eine ökonomische: Die machtvolle Figur des Grey ist die Inkarnation all dessen, was für uns im 21. Jahrhundert sonst unsichtbar oder un-fassbar bleibt. Im Kino steht uns dieser Körper nun auf einmal ganz konkret gegenüber. Mit heruntergelassener Hose.
Das wirklich Groteske in dieser Gegenwartstragödie entsteht dabei in der angenommenen Form der Freiwilligkeit, durch die das schreckliche Spiel seinen Lauf nimmt: So vermeintlich frei wie ein_e Arbeit-Nehmer_in sich entscheidet, sich für einen viel zu kleinen Teil vom viel zu großen Kuchen Stück für Stück zu verkaufen (also mehr gibt, als nimmt), so frei ist auch Steele in ihrer „Entscheidung“, sich vom Kapitalismus gelegentlich mal einen Klaps auf den Allerwertesten geben zu lassen.
Weil Steele an einem imaginären Ort lebt, an dem man nicht sowieso einfach mal aus „Tradition“ verprügelt oder verstümmelt wird (zumindest nicht so direkt und unmittelbar wie in manchen Kulturen oder Institutionen), empfindet sie das Spiel um den Schmerz anfänglich noch irgendwie als lust-ig, es gibt ja auch sonst nicht viel auszuhalten.
Doch es ist plötzlich überhaupt nicht mehr spaßig, als der neue „Arbeit-Geber“ (der vor allem nimmt, statt irgendetwas wirklich zu geben) nicht nur seine neuen vertraglich zugesicherten Freiheiten voll und ganz auskostet, sondern sich auch weitere Freiheiten nimmt: Überwachen und Strafen. Dabei hatten wir doch zusammen mit Steele fälschlicherweise angenommen, dass das der verfassungsmäßigen Ordnung und ihren Organen vorbehalten bliebe, und nicht der verkörperten Wirtschaftsordnung.
Das Emanzipatorische besteht also nicht darin, dass Steele die Züchtigungsverfahren schriftlich zugesteht, sondern in dem Akt der überfälligen Verweigerung, diesem wichtigen Schritt des Widerstandes, den Steele geht, nachdem sie auf der „Streckbank“ liegt und ausgepeitscht wird – nämlich so, wie man es mit uns am liebsten tut, wenn wir es zulassen: so unbarmherzig wie möglich, und so, dass der (Lust-)Gewinn am größten ist.
Weil Steele dies wagt – allen vermeintlichen Luxus verweigert, um wirklich in Freiheit zu leben -, ist sie die am wenigsten naive Figur in dieser Geschichte. Sie erinnert ein bisschen an Forrest Gump, der dadurch zur intelligentesten Filmfigur wurde, indem er im unaufgeregten richtigen Handeln die amerikanische Lebensweise besiegt, die inzwischen unser Leben überall auf der Welt dominiert. So wird Steele zumindest in den letzten zwei Minuten des Films, als sie aus der als Liebeshöhle getarnten Folterstube der „Marktwirtschaft“ flieht, wenigstens nachträglich wirklich zu einer „Heldin unserer Zeit“.
Natürlich ist Grey nicht der erste wütende Kapitalismus-Körper, der uns in der Kunst begegnet: Schon der Chef-Verführer Krolock aus Tanz der Vampire wusste, was er meinte, als er im Musical zum Besten gab: „Was du erträumst wird Wahrheit sein! Nichts und niemand kann uns trennen! Tauch mit mir in die Dunkelheit ein! … verbrennen wir die Zweifel! … Die Ewigkeit beginnt heut‘ Nacht“.
Dass wir uns dieser perfiden, als ‚freiheitliche Demokratie‘ getarnten „totalen Finsternis“ so freiwillig hingeben müssen, als sei sie wirklich das „Ende der Geschichte“, nur aus Hoffnung auf die kleinen Zugeständnisse an Glück und Erfüllung, das werden die meisten in ihrem täglichen Leben nicht erkennen, so sehr sind wir damit beschäftigt, das Beste daraus zu machen.
Vielleicht aber möchten wir Filme deswegen sehen, weil nur in der Kunst und vor allem im Kino der Schleier abgelegt ist, weil wir unserem sonst gut getarnten Peiniger endlich mal in die Augen schauen dürfen. Grey „bleibt mir ein Rätsel“, wie Steele sagen würde, aber im Film steht er plötzlich sehr konkret vor uns, letztlich ganz ohne Grinsen, ohne gute Ausrede. Mit dem Gürtel in der Hand.