Ende von „TV total“: Mit Stefan Raab endet keine „Fernseh-Ära“, sondern das Fernsehen selbst

Stefan Raab ist vielleicht keine typische Vaterfigur, aber viele Menschen, die kurz vor Weihnachten seinen emotionalen Fernseh-Abgang erlebt haben, sind von ihm jahrelang großgezogen, förmlich erzogen worden. Warum fühlten sich über 16 Jahre hinweg Millionen von Menschen in Raabs medialer Gegenwart gut aufgehoben und auch noch gut unterhalten? Worin besteht der besondere Reiz seines immer dichteren Fernsehkosmos, der angefangen hat mit dem scheinbar harmlosen „Vivasion“-ähnlichen wöchentlichen Experiment im kleinen Kölner Studio und angewachsen war zu einer unüberblickbaren „totalitären“ Fülle von Musik-, Sport- und Unterhaltungsformaten im Fernsehen, auf Tonträgern und als Spiele für Konsole, Computer und Wohnzimmertisch? Woher kommt das Vergnügen, das Deutschland empfunden hat, wenn Stefan Raab die Fernseh-Bühne betrat?

Boris Grois hatte in seiner „Phänomenologie der Medien“ herausgearbeitet, dass es das Projekt der Moderne ist, die Vorstellung vom Subjekt zu dekonstruieren, denn es wäre einfach zu furchteinflößend, wenn sich herausstellen würde, dass am „anderen Ende der Leitung“ – etwa hinter der glatten Oberfläche der Fernsehbildschirme oder im Hintergrund der Interfaces von Einkaufsportalen und Games im Internet – noch handelnde, denkende, fühlende, also lügende, verbrecherische, hinterlistige Menschen verbergen würden. Gerade weil die Zeichenoberfläche der Medien ihre Subjektivität verschleiern will, die medialen Mechanismen und ihre Macht vor uns versteckt, hegen wir in ihrem Angesicht den Verdacht, dass wir eigentlich keine Ahnung davon haben, wie Medien funktionieren – und ständig nur darauf warten, „dass sich der dunkle, verborgene submediale Raum irgendwann preisgibt, verrät, offenbart“. Das macht den Anblick der medialen Oberfläche erst so schrecklich reizvoll.

Hierin liegt auch das zwielichtige Vergnügen begründet, das wir empfinden, wenn in der sonst vermeintlich perfekten Fernsehinszenierung etwas schiefgeht: wenn sich eine Moderatorin in einer Livesendung aus heiterem Himmel übergibt und in Ohnmacht fällt, sich Korrespondenten die schönsten Freud’schen Versprecher leisten oder Jens Riewa ein offensichtlich schwerwiegendes Problem mit „seinem Gerät“ unter der glatten medialen Hochglanz-Oberfläche seines Tagesschau-Schreibtisches hat. Diese telemedialen Missgeschicke, die uns Raab immer vorgeführt hat, erzeugen mehr als Schadenfreude: In ihnen geraten das sonst scheinbar objektive Fernsehen und mit ihm all seine unsichtbaren Prozesse in einen unerwarteten kurzen Moment des aufrichtig ehrlichen Ausnahmezustandes, indem sich alle mühselig konstruierten Objektivitäten der Medien auflösen, stattdessen das Fernsehen nackt auf dem Seziertisch liegt. Das einst Autorität und Ehrlichkeit ausstrahlende Fernsehen wird zu einer Parodie seiner selbst.

Raab ist ein moderner Satiriker. Doch er produzierte keine politische Satire, weil der neue Ort des Politischen das Mediale ist. Gesellschaftliche Aushandlungen geschehen nur als Inszenierung im Bundestag, tatsächlich entstehen sie im hochkomplexen Diskurs, der uns ständig umgibt, und damit auch unter jenen Machtverhältnissen, denen Diskurse eben unterliegen. Dabei sind die Medien mit dem Internet nur scheinbar „demokratischer“, der Einzelne „wichtiger“ geworden – die Bemächtigten haben einfach nur andere Namen, ihre Methoden einen subtileren Anstrich. Mit seiner neuartigen Form der Satire hat Raab eine komplexe Fernsehkritik an den undurchsichtigen, dirigierten, kontrollierten Verfahren geleistet, nach denen sich Meinungen und Tendenzen in der Öffentlichkeit herausbilden – ausgerechnet indem er diese verdächtigen Verfahren ins Unsteigerbare überzeichnet und so erst wahrnehmbar und kritisierbar gemacht hat.

Unvergessen bleibt etwa der Defekt seines sonst fahrbaren Schreibtisch-Untersatzes, der „in Wahrheit“ mit der Kraft eines riesigen Magneten unterirdisch durch eine Armee von Lumpenproletariern bewegt wird, oder die „Schlacht um RTL“, bei der der Privatrundfunk noch besser bewacht zu sein scheint als die engste Führungsriege eines Militärstabs. Dass Raab auch selbst eine mediale Oberfläche ist, die nur mit Hilfe seiner Hundertschaften im Hintergrund Zeichen produziert, zeigte er jeden Abend, wenn seine Produktionsleiterin ihm die Texttafel hinhielt, ohne die er als „Moderator“ vollkommen aufgeschmissen ist. So ging Raab als Aufklärer wesentlich systematischer vor als sein Vorgänger Oliver Kalkofe und (nicht dem Publikum, sondern dem Fernsehen gegenüber) schonungsloser als Harald Schmidt.

Das Ende des „TV total“-Universums von Stefan Raab und seines Schöpfers fällt nicht zufällig mit den letzten Zuckungen des deutschen Fernsehens selbst zusammen: Während Raab abdankt, erleben wir vor der Mattscheibe die Zeit nach dem ‚Ende des Fernsehens‘, eine Art telemediale Posthistoire, die nur noch aus hoffnungslos multiplizierten Ausscheidungs- und Selbstdarstellungsshows, Helene Fischer und ihren Helfern und billig das Programm füllenden Pseudofiktionen besteht. Davon sind auch alle angeschlossenen Ökonomien und Subsysteme betroffen: etwa die Werbefilmproduktion, die sich mit immer absurderen Formen der „Produktplatzierung“ duelliert und dabei an Bedeutung verliert; die Moderation, die nach Thomas Gottschalk und Matthias Opdenhövel kein messbares Talent mehr hervorbringt, dabei auf besondere Art „automatisiert“ wird; oder die einstigen Gemeinschaften vor dem Fernseher, die sich in viele kleine Einsamkeiten aufgespalten haben.

Natürlich: ‚Noch gibt es Fernsehen, gibt es Unterhaltung‘, doch mit der Auflösung der etablierten Einzelmedien im „totalen Glasfaserverbund“, wie es Kittler schon in den 1980er-Jahren beschrieben hatte, herrschen schon bald ganz neue Spielregeln mit neuen Spielleitern, die von ihren Ahnen zwar äußerliche Ähnlichkeiten erben, aber in einer ganz anderen Welt leben als ihre Vorfahren. Heute wissen wir, wie das Fernsehen funktioniert, und damit wird es weniger interessant – vor allem, weil die häufig beschworene ‚neue Fernsehunterhaltung‘ wie jene, die etwa bei ProSieben das arbeitstägliche Show-Spätprogramm am Leben erhalten soll, nur noch an den Stellen Fernsehen ist, wo sie Fernsehen imitiert, und sich ansonsten schon bei der „Generation Z“ mit ihren neuen Rezeptionsbedürfnissen anbiedert, indem sie für ihre Web-Clips lediglich die anhaltend große technische Reichweite des Fernsehens für sich ausnutzt.

War es Raabs historische Leistung, uns kurze Einblicke in den submedialen Raum des Systems Fernsehen zu gewähren, würde die neue Fernsehunterhaltung nur dann interessant sein, könnte sie uns auf unterhaltsame Weise etwas Wichtiges über die Beschaffenheit der Medien unserer Zeit mitteilen – angesichts der Vielfalt an Akteuren, Techniken und Bedrohungen eine Aufgabe, die kaum etwa von einem werbefinanzierten Hipster-Duo, am ehesten noch von wirklich Furchtlosen wie Jan Böhmermann bewältigt werden könnten. Fernsehen braucht es dazu eigentlich nur noch als Technik, nicht als Institution.

Raab hat auf dem Bildschirm nie irgendwelche langweilige Selbstreflexion betrieben – seine Erfolgsformate wie „Schlag den Raab“ gaben ihm selten Anlass dazu. Am Ende seiner Fernsehkarriere gibt es das „totale Fernsehen“ von 1999 nicht mehr, gibt es keinen vergnüglichen Verdacht des Fernsehens mehr, der für uns so amüsant war. „Ich hoffe, sie hatten ein bisschen Spaß“, waren vielleicht seine letzten Fernsehsätze. Vielleicht waren es auch die letzten interessanten Sätze, die im Fernsehen gesprochen wurden.

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