Starke Kinder auf der 64. Berlinale in deutschen Wettbewerbsfilmen: „Kreuzweg“ und „Jack“

Kinder spielen in den meisten menschlichen Kulturen die zentrale Rolle: Als künftige Generation tragen sie unsere heutigen Errungenschaften und Erinnerungen in die Zukunft, lernen aus den Fehlern ihrer Vorfahren und werden so befähigt, eine lebenswertere Gesellschaft zu verwirklichen. Kinder sind auf den besonderen Schutz, die Fürsorge und das Wissen von Älteren angewiesen, seien es die Eltern, die Erzieher_innen in Kindergärten, Lehrer_innen in Schulen oder Trainer_innen in Sportvereinen. Kein Tier bleibt so lange bei seinen Eltern wie der Mensch. Es macht uns erst zu Menschen, dass wir unseren Kindern auf den Weg geben, was sie brauchen, um in dieser Welt zu bestehen und sie zu verändern.

So läuft es im Idealfall. Wie es unserem Nachwuchs wirklich ergeht, machen sich in diesem Jahr gleich alle deutschsprachigen Filme im Wettbewerb um die Berlinale-Preise zum Thema – und profitieren nicht nur von starken Drehbüchern, sondern noch stärkeren Jung-Darsteller_innen, die Schauspielleistungen an den Tag legen, wie man sie sich gelegentlich von hochbezahlten „Profis“ wünschen würde.

Jack muss sich und seine Bruder in Berlin selbst retten. (Bild: Jens Harant - berlinale.de)
Jack muss sich und seine Bruder in Berlin selbst retten. (Bild: Jens Harant – berlinale.de)
„Jack“ (Ivo Piezcker) ist erst zehn Jahre alt, doch weil seine alleinerziehende Mutter lieber den Vergnüglichkeiten des Berliner Großstadtlebens als ihren Pflichten nachgeht, muss er den Haushalt wie ein Vater schmeißen: Wäsche waschen, sauber machen, Essen zubereiten. Vor allem kümmert er sich liebevoll um seinen noch jüngeren Bruder Manuel – Beide haben nur einander. Die Strapazen stehen Jack ins Gesicht geschrieben: Verschwitzt, mit rotem Gesicht und stets schwerem Atmen rennt er umher, mit ernstem Blick und dem Gewissen, dass es von ihm abhnägt, die Familie mit ihm steht und fällt. Als sich bei einem Unfall im Haushalt zeigt, dass Jack am Ende seiner Kräfte ist, muss er ins Heim. Vor Schikanen flüchtend, sucht er zuhause Zuflucht, doch seine Mutter taucht tagelang nicht auf und einen Schlüssel für die Wohnung hat er nicht. Er rettet seinen Bruder aus der Verwahrlosung bei einem „Bekannten“ (der froh ist, das Kind endlich wieder los zu sein und sich wieder voll und ganz Suff und Langeweile hinzugeben), zieht mit dem Kleinen durch Berlin auf der verzweifelten Suche nach Geborgenheit der Mutter, schleppt sich erschöpft von Parkbank zu Döner-Imbiss, sucht Verstecke und flüchtet vor Brutalität. Als er letztlich doch auf seine Mutter trifft, die so gedankenlos weiterlebt wie bisher, muss er handeln – und weist sich und Manuel selbst ins Heim ein. So stark muss man erstmal sein.

Während Jack mit seinem Bruder eine schier unerträgliche Odyssey in Berlin erlebt, zieht er durch seelenlose Kaufhäuser, sieht teilnahmslos in den Clubs gammelnde Zugedröhnte, die in ihrem untoten Dasein nicht mehr erkennen können, dass ein Kind zwischen Drogen und Exzess nichts zu suchen hat, erlebt die Ideenlosigkeit von überforderten Erwachsenen, die jedes Problem deligieren, statt selbst zu handeln. Es ist keine „wunderbare“ Metropole Berlin, in die man sich verlieben könnte, welcher wir einer hoffnungslosen Romantik zuliebe ihre Schatten verzeihen könnten. Es ist ein trauriger, unregierbarer Sumpf, in dem Ignoranz, Boshaftigkeit und Armut zu herrschen scheinen. In einer solchen Welt leben zu können, ist keine Selbstverständlichkeit, schon gar nicht für ein Kind. Doch gemeinsam mit Jack erleben wir diese groteske Welt durch die Augen eines Kindes, der sich nur sehnt nach einem Zuhause, Zuneigung, Menschlichkeit. Es hängt alles nur noch an der Willensstärke und dem Mmut dieses Jungen, was ermöglicht, dass dieses Abenteuer irgendwie halbwegs gut aus gehen kann.

Maria wird geopfert. (Dietrich Brüggemann - berlinale.de)
Maria wird geopfert. (Dietrich Brüggemann – berlinale.de)
Wer mit der Biografie Jesu Christi im Groben vertraut ist, kann wiederum erahnen, dass ein Film mit dem Titel „Kreuzweg“ ein böses Ende nehmen müsste. Dietrich Brüggemann erzählt in diesem konsequent strukturierten Drama den Leidensweg der 14-jährigen Maria. In 14 Tableuas erzählt der Film vom schrittweisen Niedergang dieser biblisch erscheinenden Figur. Auch hier steht eine beeindruckende Jungschauspielerin vor der Kamera, die dieser Rolle eine erschreckende Authentizität verleiht: Von den fundamentalistischen Ansichten einer Priesterschaft und ihrer streng katholizistischen Familie vollkommen eingenommen, versucht sie, ihr Leben im Widerspruch zwischen den Erfordernissen des Alltags und dem Irrsinn des religiösen Fundamentalismus zu organisieren. Doch wie soll das in einer modernen Welt möglich sein, wenn jeder Griff in die offene Keksschale, jede Unterhaltung mit einem gleichaltrigen Jungen oder nur Wunsch, Gospelsongs im Kirchenchor zu singen als amoralisch, böse oder dämonisch verurteilt wird? Von der Fähigkeit dieses Mädchens, das keinen Platz auf Erden einnehmen darf, diesen schwierigen Weg mit einer Form von Stolz und Überlegenheit zu gehen, wird man als Zuschauer_in eingenommen. Doch Maria muss scheitern: Von dem wahnsinnigen Glauben vereinnahmt, sie müsse ihr Leben opfern, um dem mit Krankheit belegten Bruder zu Gesundheit zu verhelfen, wird Maria immer schwächer, kränker und erstickt letztlich auf der Intensivstation an einer Hostie bei ihrer Last-Minute-Konfirmation. In Szenen wie diesen erzeugt Brüggemann eine unglaubliche Fremdscham für die Figuren, die Maria ins Verderben führen: Die Mutter, die die Familie wie eine Sekte führt, der Religionslehrer, der die „Bravo“ als Teufelswerk sieht, oder der Pfarrer im Beichtstuhl, der kaum relevantere Gedanken entwickeln kann als man sie abendlich an einem McDrive-Schalter erlebt. Grotesk erscheint diese Welt, wo Priester 14-Jährige wegen ihres Sexuallebens ausfragen und verurteilen, gemischter Sportunterricht als „moderner Unsinn“ abgeurteilt wird und die Mutter nach dem Tod anscheinend nur noch die Hoffnung hat, dass ihr Tochter selig gesprochen wird. All diese zurückgebliebenen Rituale wirken mittelalterlich, selbst im Vergleich zu den nicht immer glanzvoll dastehenden zivilisatorischen Sondereinrichtungen und Ritualen unserer westlichen Gegenwart: Eine Schule funktioniert immernoch besser als der Unterricht in der Bruderschaft, bei einem verantwortungsbewussten Arzt kann man sich immernoch besser aussprechen als in einer trostlosen Familie, selbst der Bestatter kann mit seinen eingeübten Standardsätzen mehr Trost spenden als der Bagger auf dem christlichen Friedhof, der Marias Grab zuschüttet.

Was uns an diesen Filmen Angst machen muss, ist, dass es keine fremde Welt ist, die hier zusammenbricht. „Kreuzweg“ und „Jack“ erzählen nicht von fremden Ländern und Kulturen, konstruierten Phantasmen oder irrealen Alpträumen. Es ist unsere Welt, die hier zerfällt. Es sind unsere Kinder, die verlassen in der Welt umherirren, um ihren Platz zu finden. Es ist aber auch nur diese Welt, die eine Chance bieten kann, um das Leben zu einem besseren zu machen: Ein Allgemeinmediziner, der sich seiner Pflicht bewusst ist, dass er ein misshandeltes Kind nicht wieder in die Hände seiner gescheiterten Eltern geben kann; ein Au-pair-Mädchen, das ihre Liebe zu Gott und ein Leben im Hier und Jetzt miteinandner verbinden und davon reden kann; eine Heimerzieherin, die trotz schwieriger Bedingungen versucht, ihr Bestes zu geben. Es hängt von diesen einzelnen Menschen ab, ob wir morgen in einer Welt leben können, in der wir nicht nach Erlösung schreien müssen, in der wir nicht verloren gehen. Wenn Film uns davon erzählen kann, ohne in Klischees zu verfallen oder profan zu werden, hat er verdient, auf diesem Festival gewürdigt zu werden.

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