Vor einem Jahr veranstalteten die IPPNW in Berlin einen internationen Kongress anlässlich des 25. Jahrestages der Katastrophe in Tschernobyl: Dem bisher verheerendsten GAU in einer zivilen Atomanlage fielen hunderttausende Menschen zum Opfer – sie starben, leiden ihr Leben lang an der Strahlenkrankheit oder haben entstellte Kinder zur Welt gebracht. Damals hätte man denken können, dass die Menschheit aus ihren fatalen Fehlern lernen könnte, dass die Entscheidungsträger_innen und Regierungen verstehen, dass diese Technologie schlicht ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten, solche komplexen Anlagen zu kontrollieren, übersteigt. Doch aus diesem Lernprozess wurde nichts: Atomkraftwerke wurden nicht im großen Stil geschlossen, sondern liefen als tickende Zeitbomben einfach weiter, als wäre nichts passsiert.
Die Katastrophe von Tschernobyl sollte im Mittelpunkt des Kongresses im April 2011 in der Berliner Urania stehen, das Programm war in großen Teilen schon fertig. Doch kurz vor Beginn der Tagung mussten diese Planungen nochmal umgeworfen werden: Ausgerechnet zu diesem traurigen Jahrestag, pünktlich ein Viertel Jahrhundert nach Tschernobyl, gehen aus einem westlichen hochtechnologisierten Land ganz ähnliche Bilder um die Welt, Bilder von zerstörten Reaktoren und flüchtenden Menschen. Auch wenn sich alle darüber bewusst gewesen sein müssen, dass die Gefahr eines GAUs ständig präsent und es nur eine Frage der Zeit ist, bis es wieder zu einer vernichtenden Katastrophe kommen würde, war die Welt dennoch in eine Schockstarre versetzt – mal wieder.
Als ich die erstern Nachrichten über die Katastrophe in Fukushima bekam, war ich gerade bei meiner Schwester in Seattle an der Westküste der USA zu Besuch. Ich erinnere mich noch, dass damals die Rede von einer radioaktiven Wolke war, die von Japan östlich über den Pazifik ziehen könnte und dann in den westlichen Staaten Amerikas niedergehen könnte. Ich habe noch vor Augen, wie Pro-Atom-Chefideologin Angela Merkel vor die Kameras trat und meinte, sie hätte nie geglaubt, dass so etwas möglich sei – dabei ist die einzige Überraschung, wie zynisch die Bundeskanzlerin manchmal sein kann. Und ich erinnere mich an die Bilder des schrecklichen Chaos in einem Land, welches so von der Sicherheit seiner Technologie überzeugt war, dass es keine nennenswerte Anti-Atomkraftwerk-Bewegung gab.
Diese Bilder liegen nun ein Jahr zurück. Die Welt ist schon lange zur Normalität zurückgekehrt: Die Atomkraftwerke heizen weiter, in vielen Ländern werden mit deutscher Unterstützung neue gebaut – auch in von Erdbeben besonders gefährdeten Gebieten. Zwar ist die Bundesregierung aus dem Austieg wieder ausgestiegen, aber gleichzeitig werden die Fortschritte bei der Entwicklung und Förderung Erneuerbarer Energien schon wieder in Frage gestellt und teilweise rückgängig gemacht. Zum Jahrestag der Katastrophe in Fukushima packen die Tageszeitungen ein paar Bilder von in Strahlenschutzanzügen herumgeisternden Zivilschutzmitarbeiter_innen und zerstörten Häusern auf die Titelseiten, doch die hunderttausenden zerrissenen Familien und die unzähligen Schicksale voller Leid und Hoffnungslosigkeit können sie nicht zeigen. Es will sie auch niemand sehen, denn mit Atomstrom lebt es sich für die meisten eben zu komfortabel. Die Lasten dieses mörderischen Luxus tragen nicht nur die Opfer der Großkatastrophen, sondern der Dauerstrahlenbelastung und unsere Umwelt, die im Atommüll versinkt. Doch selbst die erdrückendsten Studien von an Leukämie sterben Kleinkindern in der Nähen von AKWen oder die Bilder durchgerissener qualemender Kernreaktoren reichen nicht, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen.
Ein Jahr sind diese Bilder des Schreckens her. Verändert hat sich nicht viel. Was muss noch passieren, damit das menschliche Leid und die schweren Verbrechen an der Ökologie endlich ein Ende haben?