Schluss mit falschen Träumen

Dass Tracy Letts Drama „August: Osage County“, welches am Donnerstag im Potsdamer Hans-Otto-Theater unter dem deutschen Titel „Eine Familie“ Premiere feierte, im einst fruchtbaren, aber in den 1930er Jahren bis zur Erosion heruntergewirtschafteten Oklahoma spielt, ist kein Zufall: Wie der Boden trocken, die Luft heiß und das Land rau ist, so sind auch die Familienmitglieder in diesem Drama in jeder Hinsicht am Ende: Vermeintlich glücklich, lügen sich die drei Töchter etwas zusammen, um ihre eigene Existenz ertragen zu können. Dass diese Strategie nicht aufgeht, macht Mutter Violet klar, die krebskrank und verwitwet nichts mehr zu verlieren hat. Nur oberflächlich betrachtet ist das neue Stück des „HOT“ eine stereotype Episode aus dem Leben einer Familie, welche sich erst nach einer Katastrophe beginnt, zu begreifen. In Wirklichkeit stirbt hier eine ganze erodierte Gesellschaft, die nicht mehr auf die Beine kommt: „This is the way the world ends“.

So reiht sich „Eine Familie“ (Übersetzung von Anna Opel) nahtlos in eine höchst sozialkritische Saison am kommunalen Hans-Otto-Theater ein: In „Volpone“ gibt sich ein geldgieriger Venezianer als todkrank aus, um Geschenke der um die Erbschaft buhlenden Geizkragen abzufassen, im Jahrzehnt der „Krise“ aktueller als es uns lieb sein dürfte; „Iwanow“ im gleichnamigen Stück von Tschechow geht schon nach dreißig Lebensjahren die Luft aus – ein Bilderbuch-Burnout als Diagnose einer mit sich selbst überforderten Generation; oder „Hexenjagd“, wo natürlich keine Hexen, sondern die vermeintlichen Feinde des mittelalterlichen kirchlichen Unterdrückungssystems gejagt werden – Parallelen zur willkürlichen Kommunistenverfolgung in den USA lassen sich leicht ziehen. Und „Eine Familie“ erzählt uns – verschleiert in einer Familiengeschichte, bei welcher Menschen überall auf der Welt bitter mitlachen können – von der Sinnentleertheit der ideologischen Floskel des „Strebens nach Glück“, welche sich in einer hyperkapitalisierten Welt voller Armut, Arbeitslosigkeit und Tristesse als größte Lüge unserer Zeit entpuppt.

Wer einige Aufführungen in der Schiffbauergasse gesehen hat, dem wächst das Schauspieler_innen-Ensemble, welches selbst einer großen vertrauten Familie mit klar zugewiesenen Rollen gleicht, zunehmend ans Herz. Alle haben ihren Platz: Jon-Kaare Koppe als der Gutbürgerliche, Andrea Thelemann als Frau fürs Grobe, und Franziska Melzer als die Schöne (in „Die Familie“ mit enormem Schwitzfleck endlich einmal erfrischend unsexy). Den Darsteller_innen wird im „HOT“ viel abverlangt: Sie müssen schreien, kämpfen, sich auf dem Boden wälzen oder nackig machen – und dabei geben sie ihr Bestes. Manchem Stück würden wohl ein bisschen weniger Gekreische und dafür einige ruhige Momente mehr gut tun, aber vielleicht lässt sich das Entsetzen über unsere Gegenwart nicht anders artikulieren. So wie derzeit überall in Film, Literatur und Musik wird auch im Hans-Otto-Theater nicht besonders zimperlich gehandelt, wenn es um einen vernichtenden Schlag gegen die verklärten Lebensmodelle unserer Welt geht. Erbarmungslos. So sollte es auch in der kommenden Saison sein.

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