Wie oft müssen wir noch leben, bis wir gut leben dürfen? – „Cloud Atlas“ erzählt vom Menschheitswunsch nach Zukunft

"Ein albtraumhaftes Café, blendende grelle Lichter unter der Erde und ohne Ausgang, und alle Kellnerinnen hatten das selbe Gesicht."
"Ein albtraumhaftes Café, blendende grelle Lichter unter der Erde und ohne Ausgang, und alle Kellnerinnen hatten das selbe Gesicht." (Still aus "Cloud Atlas", 2012)

Über manche Filme kann man nur schwer schreiben, denn sie beanspruchen für sich in jeder Szene, in jedem gesprochenen Satz und jedem erklingenden Ton so viel Bedeutung, wie sie nur die Filmkunst verkraften kann. „Cloud Atlas“ ist kein Meisterwerk, nur weil drei der visionärsten Filmkünstler der Gegenwart ein Gemeinschaftsprojekt verwirklicht haben, das bisher gültige ästhetisch-dramaturgische Grenzen weg sprengt, oder nur weil die größten Darsteller des Films gleich bis zu sechs Rollen in sechs verschiedenen Epochen verkörpern müssen. „Cloud Atlas“ ist ein monumentales Kunstwerk, weil es uns erklärt, was es bedeutet, Mensch zu sein, als Mensch zu leben und als Mensch zu hoffen.

„Ich werde mich diesem verbrecherischen Missbrauch nicht beugen!“, ruft ein Arbeiter-Klon im fern wirkenden Jahr 2144. Er ist nicht mehr bereit, erniedrigende Sklavendienste für die Industrie zu verrichten, nur um einen Anspruch auf das versprochene „Elysium“ zu erwerben. Den Satz hatte der Klon in einem alten Film aufgeschnappt. Später zeigt sich, dass das erhoffte „Elysium“ in Wirklichkeit nicht das Paradies, sondern der grauenhafte Tod ist. Sonmi, die die industrielle Vernichtung der Menschenklone entdeckt, wird zur Anführerin einer weltweiten Bewegung, die das Ausbeutungssystem umstürzen will – sie wird zu einer Prophetin, die für die Befreiung kämpft. Doch mit ihrem ununterdrückbaren Wunsch, in Würde und Freiheit zu leben, steht sie nicht allein – im Gegenteil: Der Drang nach gesellschaftlichem Fortschritt bedeutet das Menschsein selbst, und der unermüdliche Kampf um Menschlichkeit durchzieht die gesamte Kulturgeschichte. Im Film rettet der Anwalt Ewing einem Sklaven das Leben und setzt sich so einer menschenunwürdiger Unterdrückungsordnung zur Wehr; der Komponist Frobisher kann gegen die homophobe Gesellschaftsordnung seiner Zeit nur mit Mitteln der Musik ankämpfen – vorerst erfolglos; Investigativjournalistin Rey verhindert durch mutiges Wort eine nukleare Katastrophe, an der nur die heuchlerische Ölindustrie ein Interesse hat; der Verleger Cavendish bricht zusammen mit seinen neuen Freunden aus einem Altenheim aus, in welches er wie viele Millionen andere Alte abgeschoben wurde; Prophetin Sonmi wird zum Tod verurteilt, doch ihr Aufruf an die Menschheit überlebt und wird zur Grundlage für die Zukunft, die sie nicht mehr erleben darf. All diese Figuren eint der Wunsch, in einer Welt zu leben, die endlich lebenswürdig ist. Doch wie viele Menschen haben schon gelebt, um diesem besseren Leben wenigstens ein kleines Stück näher zu kommen? Wie viele Menschen werden noch leben und wie lange werden wir selbst noch leben müssen, bis wir endlich gut leben dürfen?

„Aus jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte wird unsere Zukunft geboren“ – „Cloud Atlas“ gibt uns ein Gespür dafür, wie relevant jede einzelne unserer Handlungen ist, welchen Einfluss jedes kleinste unüberlegte Wort, die flüchtigste Geste, ein scheinbar unbedeutender Brief, ein kleines Kunstwerk auf Gegenwart und Zukunft hat. Auch wenn uns Politiker, Machthaber und Wirtschaftsbosse weismachen wollen, wir seien bereits am Ende unserer Reise angekommen, dass die sogenannte „soziale Marktwirtschaft“ das „Ende der Geschichte“ sei, wissen wir doch ganz genau, wann sich wirklich „etwas Bedeutendes ereignet“. Das Regie-Trio verweist in seinem Epos bildgewaltig auf die tödlichen Gefahren, die unserer Zukunft drohen, wenn wir heute nicht den Mut aufbringen, uns gegen die mörderischste aller Wirtschaftsordnungen zur Wehr zu setzen, Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Umweltzerstörung anzuprangern und ein würdiges Leben für alle Menschen einzufordern. „Ich glaube, auf uns wartet noch eine andere Welt. Eine bessere Welt.“ – Sollten wir diese Hoffnung jemals verlieren oder verraten, wären wir keine Menschen mehr.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Gedanken und getaggt als , , , , , , , , , , , , , , , , . Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

One Response to Wie oft müssen wir noch leben, bis wir gut leben dürfen? – „Cloud Atlas“ erzählt vom Menschheitswunsch nach Zukunft

  1. Johnny sagt:

    Ne echt interessante Sicht auf diesen Film, der ja leider in Kritiken oft nur sehr oberflächlich interpretiert wird.
    Danke für dieses Essay, (und überhaupt den ganzen Blog).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert