Andrang vor dem Saal 7 im Cinestar am Berliner Alexanderplatz: Um 14.15 Uhr lief heute zum zweiten Mal der Dokumentarfilm über den russischen Großoligarchen und derzeit inhaftierten Michail Borissowitsch Chodorkowski durch den Projekt, nachdem er gestern erstmalig im International aufgeführt wurde. Die Schlange der „Nachrücker“, die auf einen Sitzplatz hoffen, ohne ein Ticket zu haben, ist lang.
Zu Beginn des Films – nach einer langen Kamerafahrt über eine sibirische Landschaft, die auf drei Jugendlichen endet, die „Khodorkovsky“ entweder gar nicht oder als größten Betrüger des russischen Staates in der Geschichte des Landes kennen – bringt die Sprecherstimme das zum Ausdruck, was viele denken dürften: „Es wäre einfacher gewesen, einen Film über die russischen Landschaften oder historische russische Schriftsteller zu machen“ – doch Cyril Tuschi hat sich in diesem 2010 produzierten deutschen Dokumentarfilm mehr getraut. Als die Sowjetunion an ihren Grundwidersprüchen zusammenbricht, ruft die politische Elite unter Gorbatschow nach Privatisierung. Chodorkowski wird Generaldirektor der ersten großen kapitalistischen Bank des neuen Russland („Menatep“) und leitet einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruch ein. Die überholte „sozialistische“ soll modernisiert werden, eine „Transformation“ durchmachen. Doch es gibt ein Problem: Im „Sozialismus“ gab es kein Kapital. Wer also soll die Milliarden von Dollar schweren Unternehmen kaufen, wenn sie nicht dem westlichen Ausland in die Hände fallen sollen? Die richtige Antwort: Der Staat – zumindest verdeckt. Die neuen „Kapitalisten“ werden mit Vermögen aus alten Partei- und Staatskassen eingedeckt, mit denen sie die Staatskonzerne in ihre Hände nehmen – so entsteht der mächtige Ölkonzern „Jukos“. Als der intelligente Chodorkowski merkt, dass er seine Macht nutzen kann, um einen demokratischen Wandel als Alternative zum diktatorisch agierenden Putin und seiner superreichen Gefolgschaft zu befördern, wird es den Machtinhabern ungemütlich. Der Rest ist aus den Nachrichten bekannt: Der Oligarch Chodorkowski wird in einem Schauprozess wird er der Unterschlagung von Konzerngeldern und im wahrsten Sinne des Wortes „unfassbaren“ Mengen an Öl schuldig gesprochen, erst im Dezember wurde seine Strafe um 5 Jahre verlängert.
In vielen Interviews, denen man ihre Brisanz und Gefährlichkeit sofort ansieht, ohne dass sie als solche künstlich inszeniert sind, erzählen einstige Politiker, Konzernangehörige und Zeitzeugen die Geschichte des jungen Chodorkowski und damit die des jungen verirrten Russlands. Die Sprecherstimme stellt fest: „Die Sowjetunion war meiner Meinung nach kein Sozialismus, sondern eine Staatswirtschaft“ – diese inzwischen geläufige und weitgehend anerkannte Feststellung, dass in den vermeintlich „sozialistischen“ Ländern die Produktionsmittel nicht gesellschaftlich, sondern staatlich anggeignet waren und so eine bestimmte Form des „Staatskapitalismus“ bilden, gewinnt an Zynismus, wenn auffällt, dass sich im „neuen“ Russland und den anderen postsowjetischen Ländern die Situation nicht geändert, im Gegenteil: nur verstärkt hat und dabei noch undurchdringlicher als heute ist. Doch um die Irrwege des „Privatisierungs“-Wahnsinns der 90er-Jahre zu beobachten, brauchen wir nicht bis nach Sibirien schauen, wie Joschka Fischer als deutsche Politikerstimme in den Film seinen Kommentar abgibt. „Menschenrechte funktionieren nicht so, wie Sie es sich vorstellen“, sie sind keine Selbstverständlichkeit, gerade auch bei den Demokratien. Wenn es etwas abzusahnen gibt, wird das auch abgeschöpft – überall. Ein Tipp: Versuchen Sie doch mal, am Potsdamer Griebnitzseeufer ungehindert spazieren zu gehen, dann sehen Sie, in wessen Hände einstige vermeintlich „volkseigene“ Flächen geflossen sind.
Khodorkowski ist sehenswert, wenn auch die Länge nicht ganz gerechtfertigt ist – mach ein Kommentar doppelt sich (auch wenn das gleichzeitig die Authentizität verstärkt, ist das angesichts der vielen kompetenten Redner nicht nötig). Vor allem ein pseudophilosophischer Dialog, ob denn der „Kommunismus“ (den es nie gegeben hat) an dem vermeintlich „Schlechten“ im Menschen gescheitert sei – nach der gehaltvollen Tiefe des Films ist diese platte Unterhaltung enttäuschend, vor allem gibt es bei dieser nicht uninteressanten Frage keinerlei Bezug auf die Erkenntnisse der vorangegangenen zwei Stunden Film. Diese kleinen Mängel holen die beeindruckenden Computeranimationen wieder rein, wenn sie zeigen, wie Chodorkowski von russischen Elitepolizisten verhaftet und eingebuchtet wird – bei dem vielen Doku-Material ein auffrischendes Stilmittel.